Probleme des Privaten

    Ein grosses Problem des zu heutigen Zeiten so populären politischen Aktivismus stellt das Private dar. Damit soll nicht - was unterdessen auch schon wieder in Phrasendrescherei durch alle weltanschaulichen Ecken mutiert ist - das Problem des sich-im-Netz-Preisgebens, oder die Problematik von sozialen Netzwerken angesprochen werden. Das Problem des Privaten ergibt sich wirklich da, wo die marxistischen und anarchistischen Parteien nichts verloren zu haben glauben - also im Privatleben derjenigen, die sie zu repräsentieren vorgeben. 

    Der durch den Philosophen Étienne de La Boétie berühmt gewordene “Slogan” der “Voluntary Servitude” aus seinem “Discours de la servitude volontaire” (ca. 1574) exemplifiziert die schon Jahrhunderte überdauernde Problematik, der sich auch unsere Zeit ausgeliefert zeigt: La Boétie vertritt knapp geschildert die Theorie, dass Personen existieren, die des Charakters wegen dazu bereit sind, sich selbst in freiwillige Knechtschaft zu begeben. Ein Phänomen, das selbst beinahe 450 Jahre nach La Boéties Schilderung seine Aktualität behält. 

    Karl Marx und Vertreter des Marxismus machen oft darauf aufmerksam, wie sich die wirtschaftliche Struktur des Kapitalismus letztlich auch im Bewusstsein seiner Mitglieder niederschlägt. Dies führe zu sogenannten Ideologien, zu “notwendigem, falschem Bewusstsein”. Dieses entsteht, da die widersprüchlichen Bedingungen, zu welchen bspw. die Arbeiterklasse zu leben gezwungen ist, durch gewisse (falsche) Erklärungen der Wirklichkeit zu ertragen versucht werden. Seltsamerweise glaubte Marx jedoch, dass gerade die Arbeiterklasse, die doch am stärksten die widersprüchlichen Bedingungen des Kapitalismus zu spüren bekommt, keinerlei Illusionen unterliegen würde. Und noch seltsamer scheint es, dass weder Marx, noch seine Anhänger glauben, auch selber solchen Illusionen bei ihrer angeblicherweise “objektiven” Deutung der Geschichte und der Wirklichkeit zu unterliegen. 

    Dass man sich die Wirklichkeit zum Teil schönzureden versucht ist ein jedermann bekanntes Phänomen, und illustriert den theoretischen Zweig der Ideologien in der marxistischen Weltanschauung. Doch wie verhält es sich mit der “servitude volontaire”? Wie kommt es, dass es Personen gibt, die sich freiwillig zu verknechtschaften breit sind? Dieses Phänomen ist, insofern es tatsächlich existiert, nicht mit dem Erklärungsansatz des falschen Bewusstseins zu erklären. 

    So würde der Marxist, dem es ja darum geht, die Arbeiterklasse durch eine materielle Revolution von seinem Elend zu befreien, wohl das Phänomen der freiwilligen Knechtschaft leugnen. Ansonsten wären seine Bestrebungen nämlich allesamt nicht konsequent: Denn selbst wenn die Arbeiterklasse sich materiell von Zwängen jeglicher Art befreit sehen würde, gäbe es dann noch diesen Drang, sich selber zu verknechtschaften, was wiederum totalitäre und faschistische politische Strukturen fördern würde. Man hätte also auf diese Weise nur einen Pyrrhussieg errungen: Einen zu teuer erkauften Erfolg. 

    Dass das Phänomen der freiwilligen Knechtschaft aber kein ideologischer Hokupokus ist, offenbart sich jedem von uns eben dort, wo die marxistischen und die anarchistischen Parteien nicht hineinreichen wollen: Im Privaten. Es ist beispielsweise ein Faktum, dass sexuelle Funktionsstörungen in der heutigen Zeit nur bei heterosexuellen Geschlechtspartnern auftreten, bei homosexuellen jedoch nicht. Dies wird gemeinhin damit erklärt, dass heterosexuelle Personen, die miteinander den Geschlechtsverkehr verüben noch an die (traditionelle) soziale Rollenverteilung von Mann und Frau gebunden sind, der sich die Homosexuellen entledigt haben. Dass dies kein wirtschaftliches, sondern ein privates Problem ist, ergibt sich schon daraus, dass sowohl für heterosexuelle als auch für homosexuelle Geschlechtspartner die gleichen wirtschaftlichen Bedingungen gelten. Hier entstehen also sexuelle Funktionsstörungen, nur weil sich die heterosexuellen Geschlechtspartner einer Idee, nämlich derjenigen der geschlechtlichen Rollenverteilung unterwerfen. Die Idee ist hier das Ausschlaggebende, der man sogar die Möglichkeit der eigenen sexuellen Befriedigung zu opfern bereit ist.

    Dass gerade im Bereich der Beziehungen das Verhalten zu freiwilliger Knechtschaft und Unterwerfung tendiert, offenbart sich ausser in dem oben genannten Beispiel  auch darin, dass selbst in Schulen eine ungerechtfertigte Rollenverteilung - nämlich die des Schülers und des Lehrers - vom Schüler freiwillig hingenommen wird. Doch gerade dem Bereich der Schule, wo individueller Aufstand vonnöten wäre, um sich von den sklavischen Strukturen, in welchen man sich wiederfindet, zu befreien, wird von marxistischer als auch von anarchistischer Seite viel zu wenig Achtung geschenkt. Ivan Illich, ein Kritiker der Schulpflicht, führt dazu aus: “Wir haben uns angewöhnt, die Schule als eine Variable zu betrachten, die von der politischen und wirtschaftlichen Struktur abhängig ist. Falls wir die Art der politischen Führung ändern oder die Interessen dieser oder jener Klasse fördern oder die Produktionsmittel an Privatbesitz in öffentliches Eigentum überführen könnten, würde sich - so nehmen wir [=die Öffentlichkeit, J.Ch.] an - das Schulsystem ebenfalls ändern.” Illich nennt diese Überzeugung eine illusorische (was endlich auch zeigen würde, dass auch marxistische Theoretiker “Ideologien” zum Opfer fallen), da “Schulen nicht mehr abhängig von der Ideologie, zu der sich ein Staat oder eine Wirtschaftsordnung bekennen” seien, was sich unter Anderem darin zeigt, dass sich die Schulpflicht bereits in allen möglichen wirtschaftlichen Strukturen (also auch in realsozialistischen) durchzusetzen vermochte. Die Schule behält dabei überall dieselbe Struktur, und dasselbe Ziel: “Überall fördert es [=das von Illich genannte “Curriculum”, das Ziel der Schule, J.Ch.] die Gewöhnung an einen Konsum von Dienstleistungen, der nur wieder neue ungestillte Bedürfnisse hinterlässt, und an eine entfremdende Produktion; es lehrt, die Abhängigkeit von Institutionen hinzunehmen und eine institutionelle Rangfolge anzuerkennen.” Weiter meint Illich: “Angesichts dieser Übereinstimmung ist es illusorisch zu behaupten, die Schule sei in irgendeinem tieferen Sinne eine abhängige Variable. Deshalb ist es ebenfalls illusorisch, auf einen grundlegenden Wandel des Schulsystems als Folge einer konventionell verstandenen Veränderung von Gesellschaft oder Wirtschaft zu hoffen.”

    Illich zeigt, dass Schulen das Bedürfnis nach Bildung in Institutionen selbst produzieren, und dadurch ein dicker Pfosten, der die Institution Schule aufrechterhält, der Glaube der Individuen eben an die Notwendigkeit dieser Institution selbst ist. Dabei läge es bei den Individuen, sich diesen “Spuk” aus dem Kopf zu schlagen, und endlich sinnvoll revolutionär tätig zu werden, indem man dem lieben Herr Lehrer zu verstehen gibt, dass man sich fortan nicht mehr von ihm einrichten lässt und seine Bildung selbst in die Hand nimmt. Illich sagt hierzu:

    Jeder von uns ist persönlich für seine Entschulung verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun. Keiner hat eine Entschuldigung, wenn es ihm nicht gelingt, sich vom Schulunterricht zu befreien.”

    Zusammen mit der Sexualität macht das zwei Bereiche, die 1. von den Marxisten als auch den Anarchisten völlig falsch angegangen werden und in welchen 2. das Individuum selbst sich aus der freiwilligen Knechtschaft, der es sich unterworfen hat, befreien muss. Ohne das Phänomen der freiwilligen Knechtschaft und seinen mannigfaltigen Erscheinungen in der heutigen Gesellschaft, ist jeglicher politische Aktivismus inkonsequent, leer und bedeutungslos. Es wird Zeit hier als Einzelner nach Vorne zu treten, und sich der Ketten zu entledigen, die man sich selbst angelegt hat.