Die Sprache der Verschwundenen

    Paria spricht für diejenigen, die nicht mehr sprechen können. In Deutschland verschwinden 100.000 Personen pro Jahr. Das sind zirka 274 Personen pro Tag. In der Schweiz sind es - je nach Angabe - bis zu 5000 Personen pro Jahr. Viele davon tauchen wieder auf, aber manche bleiben für immer verschwunden, für immer eine Silhouette, mit der man nur noch indirekt über Fotographien, Videoaufnahmen und Zeichnungen kommunizieren kann. Die Verschwundenen sprechen eine Sprache, doch es ist nicht unsere Sprache, es ist eine stille Sprache. Die Person schweigt, lächelt oder weint durch das mysteriöse Portal der Fotographie, auf welcher sie abgebildet ist. Manchmal glaubt man, man sieht, wie sich die Lippen der Person bewegen. Die Sprache, die sie sprechen drückt wie ein zu kleiner Schuh, sie ätzt sich in unsere Erinnerungen und kreiert Ereignisse, die gar nicht geschehen sind. Die Suchtrupps sind die lebendigen Bilder, die wir von den Personen und deren Schicksal haben, denn sie zeigen das Verschwinden-Sein, das potentielle Leben, Schrödingers Katze in vermenschlichter Form. 

    Es gibt immer zwei Seiten einer verschwundenen Person: Die eine ist die, der Person selber, die andere ist die, derjenigen, die um ihr Schicksal bangen. Beide Seiten möchten die Seiten wechseln, beide lechzen danach, entweder zurück zu den Lebendigen zu finden oder zum potenziellen Lebendig-Sein vorzudringen, durch das Dickicht des Mysteriums, das zwischen den beiden Seiten liegt. Das Unheimliche ist hier zu fühlen, wie nirgendswo sonst: Jeder ist potentiell Verschwundener, und die Informationen, die wir über die Verschwundenen haben ist mysteriös genug, um uns klarzumachen, dass wir uns von ihnen nur durch den Zufall unterscheiden.

    Man kann verschiedene Formen des Verschwunden-Seins ausmachen, und nur einer davon hängt nicht der Geruch des Mysteriösen an: Wenn man sich selbst zum Verschwundenen deklariert und seine frühere Lebenswelt spurlos verlässt. Alle anderen duften nach dem Unerklärlichen: Sie sind fast so mysteriös wie paranormale Ereignisse. Die Welt ist so gross, die Spuren eines Menschen jedoch so klein, dass es zuweilen unmöglich ist, sie zu wittern. Jeden Moment könnte ich jedem Menschen meiner Wahl mitteilen, wo ich mich befinde, doch genau die Tatsache, dass dies nicht ausreicht, um mein Verschwinden aufzuhalten - genau darin besteht die potentielle Gefahr meines eigenen Daseins. Verschwunden zu sein bedeutet zu den Lebenden zu sprechen, sie darauf aufmerksam zu machen, dass die totale Überwachung nicht ausreicht, um den Einzelnen zu schützen. Manchmal findet man ein verlassenes Fahrzeug am Fusse eines Gebirges - und sieht ein, wie hoffnungslos verloren die Lage ist. Verschwunden sein ist immer auch allein sein. Es ist immer auch das Gefühl, nicht mehr gefunden werden zu können. Dass dem Menschen Grenzen gesetzt sind, die ihn von der verschwundenen Person trennen, dass die Person zu ihm redet, während er nicht zu ihr reden kann - das zeigt, wie stark die Verschwundenen zu uns reden, die uns tagtäglich begegnen, und die wir tagtäglich verlieren.