Der Mensch als verletzliches Wesen

Jede und jeder von uns hat bereits erfahren, verwundbar zu sein, zunächst im wahrsten Sinne des Wortes: Krankheiten schwächen uns, Unfälle beeinträchtigen unsere Funktionsfähigkeit, Todesfälle führen uns die Endlichkeit jedes – auch unseres – Lebens vor Augen

    Aber auch im übertragenen Sinne erleben wir uns als verletzliche Wesen: Wir wissen um den Schmerz von Ablehnung und Ausgrenzung, wir leiden unter Situationen der Abhängigkeit und Demütigung, wir kennen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung.

    Während die ersteren Beispiele von Verletzlichkeit ihre Quelle zuallererst in unserer körperlichen Verfasstheit haben, hängen die letzteren mit unserer sozialen, emotionalen und politischen Natur zusammen. In der philosophischen Literatur wird die erste, basale Form von Verletzlichkeit auch als inhärent (oder intrinsisch) bzw. als eine ontologische Bedingung des Mensch-Seins bezeichnet, die universell, unausweichlich und anhaltend ist. Denn trotz aller medizinischen Fortschritte wird sich wohl nie etwas daran ändern, dass wir Menschen fragile Wesen bleiben, die entsprechend auf Hilfe, Fürsorge und Zuwendung angewiesen sind.
    Die Verletzlichkeit, die externen sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Faktoren geschuldet ist, wird in der Literatur wiederum als situativ (oder extrinsisch) bezeichnet, insofern sie dem jeweiligen, grundsätzlich veränderbaren Kontext geschuldet ist. Doch situative Verletzlichkeit kann sich auch verstetigen, z.B. wenn Menschen dauerhaft in missbräuchlichen Beziehungen leben oder unter permanenter sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung leiden: Sie erleben sich dann als ohnmächtig, als nicht autonom bzw. verlieren jegliches Zutrauen in ihre Autonomiefähigkeit – wenn sich situative Verletzlichkeit zu einer strukturellen entwickelt, ist auch von pathogener Verletzlichkeit die Rede.
    Die aufgeführten Bezeichnungen (inhärent, situativ, pathogen) sind weniger als trennscharfe Kategorien zu verstehen als eine Art Taxonomie von Verletzlichkeit, die Orientierung bieten soll – nicht zuletzt, um zu klären, was daraus normativ folgt. Denn noch ist unklar, was die Kenntnis unserer Verletzlichkeit(en) in normativer Hinsicht bedeutet: Haben wir z.B. moralische und politische Pflichten, die daraus erwachsen?

    Dies würde Robert Goodin bejahen, der in seinem Werk Protecting the Vulnerable dafür argumentiert, Verletzlichkeit als die primäre Quelle moralischer Verantwortung anzuerkennen. Ihm zufolge haben wir die Pflicht, diejenigen zu schützen, die in besonderer Weise gegenüber unseren Handlungen und Entscheidungen verletzlich (und von uns abhängig) sind. Alle weiteren Pflichten können daraus abgeleitet werden: So sollen wir etwa Formen der Verletzlichkeit, die durch soziale Praktiken und Institutionen entstanden sind, reduzieren. Auch Eva Feder Kittay, eine feministische Philosophin, erklärt die menschliche Verletzlichkeit und die damit korrespondierende Angewiesenheit zum normativen Ausgangspunkt ihrer Care Ethics (Fürsorgeethik). Goodin und Kittay können in diesem Sinne als Vertreter(in) einer starken normativen Lesart von Verletzlichkeit verstanden werden.
    Für andere wiederum, z.B. Sarah Clark Miller, ist Verletzlichkeit als solche keine Quelle moralischer Pflichten; gleichwohl ist Verletzlichkeit normativ bedeutsam, insofern sie uns auf zentrale moralische Ansprüche aufmerksam macht, wie etwa unsere elementaren Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Einer solchen schwächeren Lesart zufolge ist die Verletzlichkeit eine Art normative Hintergrundkonzeption, welche die eigentliche Quelle moralischer Verantwortung (hier: Bedürfnisse) ausleuchtet.

    Der philosophische Kontext, in dem Verletzlichkeit am meisten diskutiert wird, ist aber die Bioethik, insbesondere die Ethik der Forschung mit Menschen – nicht zuletzt weil hier das Attribut der Verletzlichkeit unmittelbare Auswirkung auf die Praxis hat: So sind in der Forschung mit Menschen für bestimmte Personengruppen – nämlich diejenigen, die als besonders verletzlich gelten z.B. Kinder, Bewusstlose, Gefangene – besondere Schutzmassnahmen vorgesehen wie etwa das Subsidiaritätsprinzip, d.h. dass ein solches Forschungsprojekt mit ihnen nur durchgeführt werden darf, wenn gleichwertige Erkenntnisse nicht anders gewonnen werden können (Humanforschungsgesetz Art. 11). Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass solche Personengruppen ihre eigenen Interessen nur unzureichend vertreten können, sei es weil sie noch nicht hinreichend urteilsfähig sind (Kinder), oder akut urteilsunfähig sind (Bewusstlose) oder sie sich in institutionellen Verhältnissen befinden, die Abhängigkeit befördern (Gefangene). Das Konzept der Verletzlichkeit ist allerdings in der Forschungsethik nicht unumstritten: Kritiker geben zu bedenken, dass ein zu unpräziser und inflationärer Gebrauch des Konzepts von ‚Verletzlichkeit’ zu einer pauschalen ‚Etikettierung’ ganzer Personengruppen und damit zu deren Stereotypisierung und Diskriminierung führen könne.

    Der letztere Punkt weist auf ein wichtiges, generelles Problem innerhalb der Konzeption von Verletzlichkeit hin: Wenn Verletzlichkeit Gesten des Schutzes provoziert, die sich in Form von ungerechtfertigtem Paternalismus äussern, dann droht Verletzlichkeit zu Stigmatisierung zu führen bzw. sie zu intensivieren und damit sich selbst zu reproduzieren und pathogen zu werden. Entsprechend sind unaufdringliche Formen des Umgangs mit unserer inhärenten und situativen Verletzlichkeit gefordert. Wo die Grenze zwischen berechtigten Schutzmassnahmen und entmündigendem Paternalismus verläuft, dürfte auch zukünftig noch Anlass zum Nachdenken geben.


    Quellen:

    Catriona Mackenzie / Wendy Rogers / Susan Dodds (eds.): Vulnerability. New Essays in Ethics and Feminist Philosophy, New York / Oxford: Oxford University Press 2014.


    Robert E. Goodin: Protecting the Vulnerable. A Reanalysis of Our Social Responsibilities, Chicago / London: University of Chicago Press 1985.