Menschenwürde und Selbstachtung

Im Zeitalter der modernen Naturwissenschaften bestehen erhebliche Zweifel an der angeborenen Menschenwürde, der Vorstellung, dass dem Menschen an sich eine Würde als höheres Wesensmerkmal zukomme.

    So erschüttert die neuzeitliche Kosmologie die stolze Anmaßung der Erdenbürger eine besondere Wertbestimmung zu besitzen, indem sie die Erde und die darauf lebenden Menschen nicht einmal wie flüchtige Pünktchen erscheinen lässt. Ähnliches bewirkt die biologische Evolutionslehre, wodurch die Menschheit als Zufallsergebnis einer langen, nicht zielgerichteten Entwicklung erbarmungslos in das Naturgeschehen hineingezogen wird. Dazu passen die moderne Genetik und die seit einigen Jahren in den Mittepunkt philosophischen Interesses gerückten Neurowissenschaften, nach denen unser Verhalten und Geistesleben stärker als bisher angenommen von Erbanlagen und unbewussten Hirnprozessen bestimmt wird. Die Würde scheint heute dem Raubbau von Neuronen und Genen zu unterliegen, die sie sich mit wachsendem Appetit einverleiben. Offenbar gibt es in der Natur kein Zeichen, das der Mensch als Indiz für seine Wesenswürde auf sich beziehen könnte.

    Dennoch werden wir uns mit einer völligen Verwerfung der Würdeidee angesichts der zahllosen Missstände in der menschlichen Welt weder anfreunden noch abfinden wollen. Auch wenn die Menschenwürde als abstraktes Wesensmerkmal eine Illusion ist, so gibt es doch selbst heute noch einen allgemein gültigen Weg zur Menschenwürde als konkretem Gestaltungsauftrag: Dieser verläuft von der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit des Einzelnen über seine Fähigkeit und Bereitschaft, aus einer gewissen Distanz zu sich selbst die allgemein menschliche Situation der Sorge um sich, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit zu reflektieren, hin zu ethischen Grundsätzen, nach denen dem Menschen ein Leben in Freiheit und Wohlergehen gewährleistet werden sollte. So gesehen ist Würde keine Vorgabe mehr, sondern lediglich eine Aufgabe – der Auftrag, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen.

    Was ein würdevolles Dasein ist, das beschreiben noch am besten die allgemeinen Menschenrechte. Sie formulieren auf leicht verständliche Weise Rechtansprüche des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Sicherheit; Nahrung und Bildung; Gleichheit vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Justiz und überhaupt das Recht auf ein Gemeinwesen, das die Voraussetzungen hierfür schafft. Diese Gleichsetzung von Leben in Würde mit verwirklichten Menschenrechten bleibt nicht ohne Folgen für das herkömmliche Verhältnis beider Begriffe zueinander. Normalerweise betrachtet man die Menschenwürde als tragendes Fundament der Menschenrechte, als deren unverbrüchlichen Ableitungsgrund. Man sagt, die Menschenrechte seien Forderungen, die sich aus der Idee der Menschenwürde ergeben. Im Gegensatz dazu wird hier die Menschenwürde von den Menschenrechten her interpretiert: Die Menschenwürde sei der höchste Gipfel der Menschenrechte, weniger deren Grundlage als vielmehr deren Ziel.
    Der zu erwartende Einwand, dass die Menschenrechte ihre Legitimation verlieren, wenn sie nicht auf die Idee der Wesenswürde als deren wahren Quelle gegründet werden, lässt sich nicht aufrechterhalten. Denn es ist einfach falsch, dass allein die Idee der angeborenen Wesenswürde die Menschenrechte garantieren kann. Die Menschenrechte können durchaus ethisch begründet werden und dadurch für sich stehen. Es bedarf keiner tiefsinnigen Reflexion, um zu erkennen, dass Schmerz, Leid oder Unterdrückung nicht nur für einen selbst, sondern für alle etwas Schlimmes sind.

    Allerdings wirft dieser bescheidene Gebrauch des Würdebegriffs die berechtigte Frage auf, ob hierdurch die Idee der Würde nicht gänzlich überflüssig wird, da sie den Menschenrechten nichts Neues hinzuzufügen scheint. Wenn sich der Würdebegriff nicht gänzlich auflösen soll, dann darf er nicht einfach mit den Menschenrechten identifiziert werden. Es ist ihm ein spezieller Sinn zu unterlegen, der zwar mit den Menschenrechten zusammenhängen, nicht aber darin aufgehen darf. Die Menschenrechte als Gestaltungsauftrag können nicht schon die Menschenwürde selbst sein, sondern allenfalls die Wegweiser dorthin. Erst als Ziel- und Fluchtpunkt der Menschenrechte als eines Gestaltungsauftrags ist die Menschenwürde etwas Eigenständiges. Die Frage ist nur, was?
    Die Antwort hierauf heißt Selbstachtung. Demnach bedeutet Verwirklichung der Menschenrechte, die Grundlagen dafür zu schaffen, sich besser achten zu können. Dies ist keine willkürliche Sinnzuschreibung. Wo man sich selbst achtet, erkennt man seinem Dasein einen Wert für sich und damit sich Würde zu. Man hält sein Dasein für den Aufwand wert, den es einem selbst und anderen macht. Die Menschenwürde als Selbstachtung ist der gesuchte Ziel- und Fluchtpunkt des persönlichen, politischen und rechtlichen Gestaltungsauftrags in unserer liberalen und säkularen Gesellschaft. Hiernach verbeugt sich der Mensch nicht vor sich, weil er schon Würde besitzt, sondern er verneigt sich vor sich, um sich hierdurch überhaupt erst Würde zu verleihen. Würde konstituiert sich erst da, wo sie respektiert wird, und das heißt: wo Menschen sich achten können.

    Literatur
    Franz Josef Wetz: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005.
    Franz Josef Wetz: Rebellion der Selbstachtung: Gegen Demütigung, Aschaffenburg 2014.