Menschenwürde und Selbstbestimmung

Bei der Beschäftigung mit Menschenwürde stösst man schnell auf den Begriff der Selbstbestimmung.

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    In vielen ethischen Debatten werden die beiden Begriffe in einem Atemzug genannt – etwa wenn die Befürworter der Suizidbeihilfe auf den Respekt vor der Menschenwürde verweisen und damit nichts anderes als das Recht von Personen meinen, selbst über Art und Zeitpunkt des eigenen Todes bestimmen zu dürfen. Auch bei paradigmatischen Beispielen für Menschenwürdeverletzungen wie zum Beispiel Folter oder Sklaverei scheint die Idee der Selbstbestimmung eine zentrale Rolle zu spielen –  Menschen werden gegen ihren Willen zu etwas gebracht, in ihrem Willen gebrochen, oder es wird ihnen sogar grundsätzlich abgesprochen, über ihr eigenes Leben zu verfügen. Und darin besteht gerade, so meinen viele, die Verletzung ihrer Würde. Anscheinend gibt es also einen engen Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Selbstbestimmung.

    Ist mit der Forderung, die Menschenwürde zu achten, nichts anderes gemeint, als das Recht auf Selbstbestimmung zu respektieren? Könnte man sogar auf den Begriff der Menschenwürde verzichten, weil er ohne Verlust durch das Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung bzw. Autonomie ersetzt werden kann?

    Ein nahe liegendes und wichtiges Bedenken gegenüber dieser These richtet sich auf den damit einhergehenden Ausschluss von Menschen, die noch nicht, nicht mehr oder niemals in der Lage sind, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Embryonen, Neugeborene, Kinder, Demente, schwer Kranke oder behinderte Personen sind nicht oder nur sehr eingeschränkt autonom. Wenn Menschenwürde an die Fähigkeit zur Selbstbestimmung geknüpft wird, haben sie keine Menschenwürde und müssen darin auch nicht geachtet werden. Menschenwürde soll aber, dies legt zumindest der Begriff nahe, allen Menschen zukommen, und nicht nur bestimmten Menschen. Diese Idee wird zum Beispiel in Konzeptionen der Menschenwürde erfasst, die den Begriff mit der Idee eines unbedingten Wertes menschlichen Lebens in Verbindung bringen, oder Menschenwürde an das Vorliegen typischer menschlicher Befähigungen oder Bedürfnisse knüpfen.

    Aber vielleicht könnte man die oben genannte These etwas schwächer formulieren, um sie plausibel zu machen: Dass mit Menschenwürde nichts anderes als der Respekt vor Selbstbestimmung gemeint ist, wenn es um diejenigen Menschen geht, die in der Lage sind, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Das Recht auf Selbstbestimmung rückt dieser Auffassung zufolge genau dann in den Mittelpunkt der Idee des vielschichtigeren Begriffs der Menschenwürde, wenn es um Fragen des Umgangs mit autonomen Personen geht.

    Auch mit Blick auf diese These kann man sich allerdings fragen, ob sie überzeugend ist und den Gehalt sowie die Funktion des Menschenwürdebegriffs richtig widergibt. Zunächst einmal halten wir offensichtlich nicht jeden Eingriff in die Selbstbestimmung schon für eine Menschenwürdeverletzung. Das zeigt sich daran, dass wir Eingriffe in die Autonomie von Personen in gewissen Fällen für erlaubt halten, z.B. um sie vor sich selbst zu schützen, während Verletzungen der Menschenwürde gemeinhin als kategorisch verboten gelten. Selbst wenn durch das Foltern einer Person eine Vielzahl von Menschenleben gerettet werden könnte, halten wir Folter für absolut verboten –  weil sie gegen die Menschenwürde verstösst. Es sind also nur bestimmte Eingriffe in die Selbstbestimmung von Personen, welche wir für Menschenwürdeverletzungen halten. Und zwar anscheinend solche, die besonders schwerwiegend sind, weil sie zentrale Bereiche des Lebens von Personen betreffen oder eine Demütigung oder Missachtung darstellen.

    Die Menschenwürde zu achten meint diesem Vorschlag zufolge also, nicht in diejenigen Entscheidungen autonomer Menschen einzugreifen, die zentrale und höchstpersönliche Bereiche ihres Lebens betreffen. Und sie nicht auf Weisen zu behandeln, die ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen, dass sie nichts zu sagen haben oder kein Recht darauf haben, sich selbst zu bestimmen, was eine Missachtung und Demütigung darstellt. So formuliert scheint mir der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Selbstbestimmung nun tatsächlich einen sehr wichtigen Aspekt dessen zu erfassen, was es heisst, die Menschenwürde zu achten.

    Während der Grundgedanke der eben beschriebenen Position –  in meinen Augen zu Recht – weithin akzeptiert wird, werden mit Blick auf spezifische Fälle manchmal Zweifel an ihr geäussert. Es wird die Auffassung vertreten, dass es bestimmte Praktiken und Handlungen gibt, die Personen aus Gründen der Menschenwürde nicht tun sollten oder nicht mit sich machen lassen sollten, selbst wenn sie diesen freiwillig und autonom zustimmen; und zwar selbst dann, wenn es dabei um wichtige oder persönliche Bereiche ihres Lebens geht. So wurde beispielsweise in Frankreich die Praxis des „Zwergenweitwurfs“, bei der kleinwüchsige Menschen zu Unterhaltungszwecken in einer Art Wettkampf durch die Luft geschleudert werden, aus Gründen der Menschenwürde verboten. Und die Klage eines kleinwüchsigen Menschen gegen dieses Verbot, in welcher er auf seine Menschenwürde –  im Sinne des Rechts auf Selbstbestimmung –  verwies, wurde zurückgewiesen. In der Begründung des Verbots wurde darauf verwiesen, dass die Praxis des Zwergenweitwurfs entwürdigend sei, weil Menschen zu Objekten gemacht und der Lächerlichkeit preisgegeben würden.

    Der „Zwergenweitwurf“ ist nur ein Beispiel für Praktiken, in denen ein Konflikt zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und der Menschenwürde auftritt. Auch im Zusammenhang mit anderen Praktiken wie zum Beispiel der Prostitution, des Organhandels oder auch der Teilnahme an bestimmten Fernsehshows werden ähnliche Bedenken geäussert. Kurz gesagt lautet die Frage, ob die Tatsache, dass eine Person einer Handlung oder Praxis autonom zustimmt, hinreichend dafür ist, die nach Ansicht vieler zunächst einmal entwürdigenden Aspekte dieser Praktiken –  Menschen werden als Objekte behandelt und als „käuflich“ gehandelt –   gewissermassen ausser Kraft zu setzen. An dieser Stelle tritt also ein Dilemma auf, das damit zu tun hat, dass Menschenwürde nicht nur eine individuelle oder innere Angelegenheit ist, sondern eine soziale Dimension hat. Einzelne Personen können, so scheint es, nicht selbst darüber bestimmen, was die Bedeutung dieser Praktiken ist. Andererseits ist es aber, wie ich oben gesagt habe, Ausdruck des Respekts vor der Menschenwürde, Personen über wesentliche oder persönliche Bereiche ihres Lebens bestimmen zu lassen. Wie man mit solchen Fällen umgehen soll, ist eine der wichtigen und interessanten Fragen, die sich aus der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Menschenwürde und Autonomie ergeben.

    (Dieser Beitrag ist ebenfalls online im Tagesanzeiger-Newsnet erschienen.)