Am 11. März 2014 hat sich der Ständerat für die grundsätzliche Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, entschieden. Unter PID versteht man dabei die zellbiologische und molekulargenetische Untersuchung eines durch künstliche Befruchtung erzeugten Embryos als Entscheidungsgrundlage zu dessen Einpflanzen in die Gebärmutter. Damit soll neu die heute in der Schweiz verbotene PID erblich vorbelasteten Paaren zugänglich gemacht werden.
Indem er sich zusätzlich für die Untersuchung auf numerische Chromosomenstörungen aussprach, ging der Nationalrat in der aktuellen Sommersession sogar noch einen Schritt weiter. Ein solches Aneuploidie-Screening erlaubt die Aussonderung von Embryonen mit chromosomalen Störungen, wie beispielsweise Trisomie 21. Derartige Tests sollen alle Paare durchführen dürfen, die auf künstliche Befruchtung zurückgreifen. Das entspräche über 6000 Anwendungsfällen pro Jahr.
Die PID ist ethisch und politisch umstritten, wirft sie doch grundlegende Fragen nach dem Wert menschlichen Lebens auf. Entsprechend lang und kontrovers wurden im Parlament die Debatten im Spannungsfeld zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Grenzen geführt, und das Selbstbestimmungsrecht der Eltern einer „Würde der Embryonen“ gegenübergestellt. Während sich Befürworter für den medizinischen Fortschritt aussprachen, warnten die Gegner vor der Instrumentalisierung des menschlichen Lebens. Der Bundesrat sprach wörtlich gar von „eugenischen Tendenzen“.
Im vorliegenden Essay möchte ich die Hauptargumente skizzieren, die im philosophischen Diskurs um die Menschenwürde vorgeburtlichen Lebens angeführt werden, und damit insbesondere auf die gesellschaftliche Bedeutung der Diskussion um die Anerkennung des moralischen Status von Embryonen aufmerksam machen.
Den wohl grössten Einfluss auf unser heutiges Verständnis der Menschenwürde hatte der deutsche Philosoph Immanuel Kant, der in seiner Moralphilosophie den Begriff der Würde als transzendenten und immanenten Wert etablierte. Würde besteht demnach in der Selbstzweckhaftigkeit der Personen, in ihrem Selbstwert, ihrer Selbstbestimmung und Autonomie. Bei einer derartigen Verknüpfung der Menschenwürde mit spezifischen personalen Fähigkeiten ergeben sich aber gerade an den „Randbereichen“ des menschlichen Lebens – bei Kleinkindern, Behinderten, oder eben Embryonen – begriffliche Schwierigkeiten. Ein Embryo ist weder autonom noch selbstbestimmt. Um das Konzept der Menschenwürde auf diese besonders verletzlichen Lebensformen auszuweiten, braucht es entsprechend einen Ansatz, der ebendiesen Daseinsformen einen intrinsischen moralischen Wert zuspricht und den Begriff der Würde getrennt von einem Personenstatus fundiert. Einen solchen Ansatz stellen die vier unter dem so genannten „SKIP-Argument“ subsumierten Argumente dar: das Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument.
Das Speziesargument stellt darauf ab, dass alle menschlichen Lebewesen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Spezies Mensch als Würdeträger gelten. Weil offensichtlich auch Embryonen Mitglied dieser Spezies sind, besitzen sie folgerichtig Würde und sind entsprechend schutzwürdig.
Der Grundgedanke des Kontinuumsarguments macht auf die kontinuierliche Entwicklung des Embryos zu einer Person aufmerksam. In dieser Entwicklung fehlen moralisch relevante Einschnitte, welche das pränatale Leben von einem Moment zum anderen zu Würde berechtigten; jede Zäsur wäre nur willkürlich. Insofern ist Embryonen und menschlichem Leben schlechthin von Beginn an ein Würdestatus zuzuschreiben.
Zwischen Mensch und Embryo besteht laut dem Identitätsargument weiter eine Identitätsbeziehung. Der Mensch unterscheidet sich nicht vom Embryo, aus welchem er sich entwickelt hat, sondern ist mit jedem Lebewesen identisch, das er zu einem früheren Zeitpunkt einmal war.
Das Potentialitätsargument besagt schliesslich, dass Embryonen zwar nicht aufgrund ihrer aktuellen Eigenschaften schutzbedürftig sind, wohl aber über die potentiellen Dispositionen verfügen, die nach vollständiger Entwicklung für die Zuschreibung eines moralischen Status ausschlaggebend sind.
So eingängig diese vier SKIP-Argumente auch scheinen mögen, so ambivalent werden sie im philosophischen Diskurs aufgefasst und zahlreichen Einwänden gegenübergestellt. Während sich beispielsweise das Speziesargument einem naturalistischen Fehlschluss konfrontiert sieht, wird beim Potentialitätsargument die moralische Relevanz der vorhandenen Dispositionen und die daraus abgeleitete Schutzwürdigkeit angezweifelt – analog zu einem Kronprinzen, der zwar eines Tages den Thron besteigen wird, dessen aktuelles Potential aber nicht dazu ausreicht, bereits jetzt die Rechte eines Königs zu besitzen.
Inwieweit Embryonen schutzwürdig sind, wird vor diesem Hintergrund plötzlich unklar. Klar dagegen scheint, dass die Diskussion um die Würde von Embryonen Grundsätze unserer humanen Gesellschaft und unseres menschlichen Selbstverständnisses in Frage stellt.
Die grosse Herausforderung sehe ich darin, sich mit diesen Fragen im Spannungsfeld zwischen technisch Möglichem, gesellschaftlich Erwünschtem und ethisch Vertretbarem auseinanderzusetzen. Welches Leben anerkennen wir als lebenswert? Wo setzen wir dem wissenschaftlichen Fortschritt Grenzen? Und wie begegnen wir dem immer lauter werdenden und gesellschaftlich verankerten Anspruch auf ein Recht auf ein (gesundes) Kind?
Im Sinne einer kollektiven Verantwortung erachte ich den Übergang von einer passiven zu einer aktiven Menschenwürde als Schlüssel. Anstatt bloss die mit Würde verbundenen Rechte einzufordern, muss Menschenwürde aktiv gelebt und in jeder unserer Handlungen ausgedrückt werden. Nur so erhalten wir die Humanität gegen die Dominanz des Stärkeren aufrecht. Nur so bewahren wir die Menschenwürde vor einer allmählichen Erosion.
Quellen
Dietrich, Frank und Czerner, Frank: Menschenwürde und vorgeburtliches Leben. In: Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. Jan C. Joerden, Eric Hilgendorf und Felix Thiele. Berlin 2013.
Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. In: Werke in zehn Bänden. Hrsg. Wilhelm Weischedel, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1960.
Embryonen-Test nur bei schweren Krankheiten, in: NZZ.ch vom 11. März 2014. (zuletzt besucht am: 12.06.2014).
Nationalrat für Untersuchung auf Chromosomen-Störung, sda. (zuletzt besucht am: 12.06.2014).
Wenn vom „Ersatzteillager für Geschwister“ die Rede ist, in: Tagesanzeiger.ch vom 3. Juni 2014. (zuletzt besucht am: 12.06.2014).