Die Würde des Kindes im Rechtssystem und deren Bedeutung für die Praxis

Wenn Kinder und Jugendliche mit straf-, zivil- oder verwaltungsrechtlichen Instanzen und Diensten in Berührung kommen, besteht die Gefahr, dass ihre Menschenwürde nicht oder nur ungenügend geschützt wird. Auch in der Schweiz.

    Welche Kinder sind betroffen? Kinder, deren Eltern sich trennen oder scheiden lassen. Kinder, die von Kindesschutzmassnahmen betroffen sind, die in Pflegefamilien oder Heimen leben. Kinder, die von einem Elternteil ins Ausland oder in die Schweiz entführt werden. Kinder, die von Straftaten als Opfer oder Zeuge betroffen sind oder selbst eine Straftat verübt haben. Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil die Schweiz verlassen müssen, weil sie ausgewiesen werden. Kinder, die mit ihren Eltern oder alleine, als sogenannte unbegleitete minderjährige asylsuchende Kinder, einen Asylantrag stellen, sowie Kinder im Schul- und Gesundheitssystem.

    Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ein Kind mit der einen oder anderen Instanz in Kontakt kommt. Verlässliche Zahlen gibt es mangels einer Schweiz weit verbindlichen Statistik aber nicht oder nur punktuell, wie auch der Bericht des Netzwerks Kinderrechte Schweiz an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes feststellt.1

     


    Wie kann in der Praxis die Situation von Kindern und Jugendlichen verbessert werden?

    Im Jahr 2010 hat der Europarat die Leitlinien für eine kindgerechte Justiz verabschiedet, die in der Praxis zur Verbesserung der aktuellen Situation von Kindern und Jugendlichen beitragen. Die Leitlinien sollen in allen Situationen, in denen Kinder und Jugendliche mit Behörden oder Gerichten in Kontakt kommen, von Mitarbeitern bei Behörden und Gerichten eingehalten werden. Dadurch soll u.a. die Wahrung ihrer Würde vor, während und nach einem rechtlichen Verfahren gestärkt werden. Damit sind diese Leitlinien mit der UN-Kinderrechtskonvention das wichtigste Instrument für eine kindgerechte Justiz. In der Schweiz setzt sich Kinderanwaltschaft Schweiz für die vollständige Umsetzung dieser Leitlinien bis 2020 ein.

    Die Leitlinien verlangen, dass Kinder und Jugendliche in allen Phasen eines rechtlichen Verfahrens aufmerksam, fair und respektvoll behandelt werden, was nur umgesetzt werden kann, wenn ihre seelische und körperliche Integrität während des gesamten Zeitraumes gewahrt bleibt.2 Ein besonderes Augenmerk gilt ihrer persönlichen Situation, ihrem Wohlergehen und speziellen Bedürfnissen. Dass Kinder weder Folter noch anderen erniedrigenden Praktiken ausgesetzt werden dürfen, formulieren die Leitlinien explizit.

    Auch auf den Schutz der Privatsphäre verweisen die Leitlinien für eine kindgerechte Justiz, denn diese wird gerade von Print- und Onlinemedien immer wieder verletzt, weil Namen, Fotos oder andere Informationen aus dem Alltag der Kinder veröffentlicht werden. In der Praxis muss deshalb der Schutz der Privatsphäre der Kinder – als Individuum und Teil einer Familie, als Opfer oder Täter – einen besonderen Stellenwert erhalten. Insgesamt fünf Artikel in den Leitlinien äussern sich zu diesem Thema und empfehlen beispielsweise den Ausschluss der Öffentlichkeit während bestimmter Verfahren sowie die Aufforderung zu strengen Bestimmungen für die Vertraulichkeit derjenigen Fachpersonen, die Kinder in Verfahren vertreten und begleiten.

    Ebenfalls äusserst praxisrelevant und ein nicht zu unterschätzender Aspekt, der die menschliche Würde betrifft, ist die Verweigerung oder Ignoranz der Meinung eines Kindes und sein Recht auf Anhörung in einem Verfahren durch die Behörden und Gerichte. Das Recht auf Meinungsäusserung und Anhörung ist ein Grundrecht, das ein Kind gemäss seinem Alter und seiner Reife selber oder in Vertretung qualifizierter Dritter wie Eltern oder Fachpersonen ausüben kann. Anlässlich der Erarbeitung der Leitlinien hat der Europarat 3’800 Kinder und Jugendliche aus 25 europäischen Ländern konsultiert und die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst. Die befragten Kinder haben darin klar ihren Wunsch geäussert, dass sie von den Behörden und Gerichten angehört und verstanden werden wollen.

     


    Aufgrund dieser besonderen Wichtigkeit, hat Kinderanwaltschaft Schweiz das Recht auf Meinungsäusserung und Anhörung von Kindern und Jugendlichen zum Jahresschwerpunkt 2014 gemacht.

     



    1 Zweiter und dritter NGO-Bericht an den Ausschuss für die Rechte des Kindes, S. 12


    2 Die fünf Grundprinzipien der Leitlinien sind: Beteiligung, Kindeswohl, Würde, Schutz vor Diskriminierung, Rechtsstaatlichkeit