Seit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust ist der Begriff der Menschenwürde zu einem Ankerbegriff für die humane Grundorientierung im Zusammenleben von Menschen geworden. Der Holocaust hat gezeigt, dass die Einheit der menschlichen Gattung, aus der die Juden ausgeschlossen wurden, grundsätzlich bezweifelt werden kann. Diesen Tatbestand habe ich durch meine Begriffsprägung „Gattungsbruch“ zum Ausdruck gebracht und dafür plädiert, tiefgreifenden moralischen Veränderungen durch eine Philosophie der historischen Erfahrung Rechnung zu tragen. Die Erfahrungen von Unmenschlicheit, die mit dem Nationalsozialismus einhergehen, haben ihren Niederschlag in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gefunden, die bereits in ihrer Präambel die Anerkennung der „angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte“ aller Menschen unterstreicht und auf „Akte der Barbarei“, die aus „Verachtung der Menschenrechte“ geschehen seien, Bezug nimmt.
Im deutschen Grundgesetz von 1949 steht als Reaktion auf den Nationalsozialismus der wegweisende Artikel 1, in dem die Würde des Menschen für „unantastbar“ erklärt und die staatliche Gewalt auf deren Achtung und Schutz verpflichtet wird. Dem folgt das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten, die Legislative, Exekutive und Judikative unmittelbar binden.
Der Zusammenhang von Menschwürde und Menschenrechten gewinnt im 20. Jahrhundert dadurch seine besondere Bedeutung, dass extremen Formen von Entmenschlichung und Verletzungen elementaren zwischenmenschlichen Respekts in institutionellen Neuordnungen Einhalt geboten werden soll. Insofern gehören in diesen Kontext auch die Erfahrungen der Apartheid, auf die in der Verfassung von Südafrika (1996) gleichfalls mit dem Bekenntnis zu Werten der menschlichen Würde, der Gleichheit von Menschen und der Menschenrechte reagiert wurde.
Die uneingeschränkte Anerkennung der Gleichheit von Menschen, einfach aufgrund dessen, dass sie Menschen sind, bildet den moralischen Rahmen für die Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten. Begrifflich lässt sich diese Grundorientierung als egalitärer Universalismus fassen, hinter dessen Ausbreitung eine Geschichte des Abbaus von Diskriminierungen zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe oder Menschen unterschiedlicher Religionen steht, eine Geschichte, der bis heute keine weltweite Erfolgsbilanz zugesprochen werden kann. Geschlechtspezifische, rassistische, ethnische oder religiöse Diskriminierungen mit ihren traditionellen Mustern repräsentieren partikularistische Gegensätze zur egalitär-universalistischen Grundnorm und beanspruchen für sich eigene Auffassungen von menschlichem Zusammenleben und eigene Verständnisse von menschlicher Würde. Das unterstreicht im Kontrast die Würdekonzeption des egalitären Universalismus, dessen Bild vom Menschen sich von sozialen Rollen, gesellschaftlichem Status oder bestimmten Eigenschaften losgelöst hat und nur den Grundtatbestand des Menschseins in Ansatz bringt. Man kann daher von einer abstrakt-modernen Würdekonzeption sprechen, die sich von Verständnissen abhebt, in denen von „Würde“ auch im Tier- oder Pflanzenbereich die Rede ist (Löwe, Eiche). Ebenso hinfällig werden im menschlichen Bereich begriffliche Verbindungen zu Ehre, Tugend, Vornehmheit oder Reputation. Ältere philosophische Vorstellungen, die solchen Verständnissen folgen, sind von der hier interessierenden Konzeption zu unterscheiden.
Die abstrakt-moderne Würdekonzeption kann Anspruch auf weltweite Akzeptanz erheben, weil sie einereits auf die Gegebenheiten moderner Industriegesellschaften mit rechtsstaatlichen Ordnungen abgestimmt ist, die der freien Entfaltung von Individuen keine prinzipiellen sozialen Schranken setzen und damit auch Entwicklungstendenzen der „Weltgesellschaft“ befördern. Andererseits kann diese Würdekonzeption durch ihre Bindung an Menschenrechte den auch gegenwärtig immer wieder erneuerten historischen Erfahrungen Rechnung tragen, dass Menschen - wo auch immer - der Respektierung und des Schutzes von Grundrechten bedürfen. Neben den elementaren Rechten auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person ist besonderer Wert auf die Negativliste zu legen, die auf der Weltkonferenz der UN (Wien 1993) als wichtiger Bestandteil des Bekenntnisses zur Universalität der Menschenrechte bekräftigt wurde. Zentrale Punkte der Ächtung sind dabei: Völkermord und ethnische Säuberung, Vergewaltigung in Kriegseinsätzen, Apartheid, Diskriminierung von Minderheiten, Terrorismus, Rechtlosigkeit von Kindern.
Hieraus ergeben sich politische und rechtliche Verpflichtungen von Staaten, die als Mitglieder der UN für die Einhaltung von Menschenrechten verantwortlich sind. Verletzungen von Menschenrechten bedeuten Verletzungen der Menschenwürde. Damit wird das Spannungsverhältnis sichtbar, das sich zwischen Postulaten zur Beachtung der Menschenwürde und der Souveränität von Staaten, die entweder nicht willens oder fähig sind, Menschenrechtsschutz zu gewährleisten, ergeben kann. In den letzten Jahren hat die Norm der Schutzverantwortung von Staaten (responsibility to protect: R2P) immer stärkere Akzeptanz gefunden, doch erweist es sich als großes Problem, auf UN-Ebene (Sicherheitsrat) zu einvernehmlichen Anwendungen zu kommen (z.B. Lybien, Syrien). Auch die philosophische Diskussion in dieser Frage ist sehr kontrovers. Wer jedoch die moralischen und politischen Brüche, mit denen uns historische Erfahrung konfrontiert, ernstnimmt, kann nicht prinzipiell gegen humanitäre Interventionen sein. Die Bewahrung der Menschenwürde ist zu wichtig, um sie nicht umfassend zu verteidigen.
Quellen:
Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, Reinbek bei Hamburg 2005.
Christoph Menke, Menschenwürde, in: A. Pollmann/G. Lohmann (Hg.), Handbuch Menschenrechte. Stutttgart 2012, 144-150.
(Dieser Beitrag ist ebenfalls online im Tagesanzeiger-Newsnet erschienen.)