Aus dem Geist der Demokratie – Bedingungsloses Grundeinkommen

Oder: Über den politischen Solidarverband und das Selbstmissverständnis der „Arbeitsgesellschaft“

    In diesem Blog sind schon einige Beiträge zur Sache erschienen, die jeweils eine eingehende Auseinandersetzung verdienten. Da dies aufgrund des beschränkten Platzes nicht möglich ist, werde ich nachfolgend zwei Aspekte herausheben, die bisher meines Erachtens zu kurz gekommen sind. Für die – öffentliche wie wissenschaftliche – Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)[2] sind sie nicht unerheblich.

    Ein BGE für alle Staatsbürger und Personen mit Aufenthaltsstatus? Utopisch sei das, ein gefährliches oder riskantes Experiment (Peter Ulrich sieht das für die sofortige Einführung so, Ulrich 2014) mit ungewissem Ausgang, so eine häufig anzutreffende Einschätzung. Es sei gar gefährlich, eine Aufkündigung des „Gesellschaftsvertrags“ (Anton Leist 2014) oder ein Rütteln an den Grundfesten des Zusammenlebens (Katja Gentinetta 2014).

    Utopisch, wäre zu entgegen, ist jeder Gedanke, der ein mögliches Anderssein im Verhältnis zur Gegenwart entwirft. Nur Hoffnungen können das mögliche Anderssein tragen, Erfahrungen können dafür nicht ins Feld geführt werden, denn die lägen in der Zukunft. Ungewiss, experimentell, bliebe zu ergänzen, ist der Ausgang jeder lebenspraktischen Entscheidung, die in einfachsten Vollzügen des Alltags getroffen wird, denn sie weist in die Zukunft. Was sie bringen wird, können wir nicht wissen, wenngleich wir vom Gegenteil überzeugt sind oder zumindest annehmen, dass es gut ausgeht. Ganz so war es mit der Einführung der Demokratie, der Sozialversicherungen, dem allgemeinen Wahlrecht.

    Über diese Konfrontation mit der offenen Zukunft, die der Vorschlag eines BGE bedeutet, kann uns keine Modellsimulation hinwegtrösten, kein Feldexperiment hilft uns dabei, diese Offenheit zu schließen. Ihr kann man sich lediglich stellen, so wie man sich einst, aus feudalen Verhältnissen kommend den Möglichkeiten der Demokratie stellen konnte oder am Alten festhalten musste. Ob eine Entscheidung etwas taugen wird, lässt sich nicht mit Argumenten garantieren, weil diese nur Plausibilitätsketten bilden, die aus der Vergangenheit stammen. Sie sind fehlbar.

    Gilt diese Ungewissheit nur für Hoffnungen, die Befürworter mit dem BGE verbinden? Nein, sie gilt gleichermaßen für die Einwände, die das Morgen aus dem Heute heraus beantworten wollen und in mancher Hinsicht Probleme, vor denen wir längst stehen, der Zukunft mit BGE zuschreiben.

    Bleibt deswegen lediglich die fahrlässige Haltung, sich mit offenem Auge ins Ungewisse zu stürzen?

    Keineswegs. Für die empirische Auslotung der Voraussetzungen, die ein BGE zum Gelingen benötigt, bietet sich nur ein Weg: den Blick auf die Vergangenheit zu richten. Was aus ihr sich schließen lässt, kann ins Verhältnis dazu gesetzt werden, was ein BGE mit sich brächte. Es gilt also herauszufinden, welche Gemeinsamkeiten zwischen dem Gestern und dem Morgen bestehen, ohne etwas darüber sagen zu können, wie die Menschen tatsächlich mit den Möglichkeiten umgehen würden, die ein BGE schüfe.

    Wie so oft, wenn die gegenwärtigen Lebenszusammenhänge unter den Begriff ‚Arbeitsgesellschaft’ gebracht werden, jedoch nur Erwerbsarbeit“ gemeint ist, fällt etwas unter den Tisch. Wer gegenwärtige Gemeinwesen als Arbeitsgesellschaft deutet, spricht meist nur über Erwerbstätigkeit, also Arbeitskonstellationen, in denen der Einzelne einer Funktion oder Aufgabe dient und nicht um seiner selbst willen etwas gilt. Er ist darin als Mitarbeiter austauschbar, notwendigerweise. Der Begriff ‚Anerkennung’, der in diesem Zusammenhang häufig gebraucht wird, unterscheidet nicht zwischen der Anerkennung der Person um ihrer selbst und um einer Leistung willen. Das übersehen manche, die den Zusammenhalt in einem Gemeinwesen durch Erwerbsarbeit gestiftet sehen, da in bzw. durch Arbeit der Einzelne Anerkennung finde, so die Behauptung (z. B. Butterwegge 2013, Castel, 2008, Eichhorst 2013, Leist 2014). Diese Anerkennung ist jedoch nur eine mittelbare, eine Anerkennung um der erbrachten Leistung wegen. Unmittelbar richtet sie sich nicht an die Person, was drastisch erfahren wird, wenn Mitarbeiter entlassen werden, weil ein Unternehmen sie nicht mehr benötigt, aus welchen Gründen auch immer, oder in der Enttäuschung darüber, wie schnell einen die Kollegen vergessen, wenn man aus dem Arbeitszusammenhang ausgeschieden ist. Dieser unerlässlichen Austauschbarkeit der Person als Funktionsträger oder Aufgabenbewältiger steht ihre Nicht-Austauschbarkeit, ihre unmittelbare Anerkennung um ihrer selbst willen gegenüber. Das ist dort der Fall, wo die ganze Person im Zentrum des Handelns steht: in Familie, salopp ausgedrückt, und Gemeinwesen. In beiden steht die Person um ihrer selbst willen im Zentrum, im einen Fall als Angehöriger einer partikularistischen Gemeinschaft (Familie), im anderen als Angehöriger einer universalistischen (Staatsbürger). Erstere kennt keine „Einbürgerung“, sie ist hermetisch, letztere schon, Angehörige können aufgenommen werden.

    Es ist die republikanische Demokratie westlicher Prägung, in der die Anerkennung der Person als Angehörige des Gemeinwesens um ihrer selbst willen gilt. Nicht steht eine erbrachte oder zu erbringende Leistung im Zentrum. Es ist diese Vergemeinschaftung als Solidarverband, die es erst möglich macht, zugewanderte Menschen aufzunehmen und ihnen den gleichen Status zu verleihen. Die bedingungslose Verleihung von Rechten (Grund- bzw. Bürgerrechte) entspricht einem Reziprozitätsbegriff, dem die Person Selbstzweck ist als Angehörige eines Gemeinwesens. Er ist das Fundament der eng gefassten Reziprozität von Leistung und Gegenleistung, die Anton Leist hervorhebt (Leist 2014) und die bei Katja Gentinetta (Gentinetta 2014) anklingt. Zwar ist ein Gemeinwesen darauf angewiesen, dass sich seine Angehörigen einbringen. Sie müssen sich stets fragen, was und wie sie zum Wohlergehen des Ganzen beitragen können, sei es in Form der Erstellung von Gütern und Diensten, sei es durch Hinwendung zum anderen Menschen z. B. in der Familie, sei im staatsbürgerschaftlichen Engagement, aus dem sich letztlich Ehrenamt und Freiwilligendienst herleiten (Liebermann 2013). Allerdings, und das ist entscheidend, verzichtet die Demokratie aus guten Gründen darauf, Antworten auf diese Fragen einzufordern und bei Unterlassung zu sanktionieren. Würde sie auf solche Mittel zurückgreifen, erschütterte dies ihre Grundfesten.[3] Das Gemeinwesen muss, es kann nicht anders, wenn es sich als Gemeinwesen erhalten will, als auf die Loyalität seiner Bürger zu setzen oder diese, falls nötig, zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung zu machen (Liebermann 2014). Der Status Staatsbürger ist nicht widerrufbar, allenfalls kann die Ausübung von Rechten eingeschränkt werden – als ultima ratio.

    Es bedarf also eines Souveräns, einer Vergemeinschaftung von Angehörigen, hier den Staatsbürgern, die darüber befindet, wie sie das Zusammenleben gestalten will. Dafür gibt es gegenwärtig keine Instanz oberhalb des Nationalstaats. Es ist nicht auszuschließen, dass es einmal anders werden könnte, doch die bisher entstandenen und von manchen schon als Erben gesehenen Gebilde, auf die dabei hoffnungsvoll geschaut wird, wie UNO oder EU, sind alles andere als von einem Bürgerethos durchdrungen und entsprechend gestaltet.

    Genau dieser Zusammenhang, dass es eines Souveräns bedarf, der darüber befindet, wie er leben und dieses Zusammenleben gestalten will, zeigt die Bedingtheit eines BGE (Liebermann 2010). Es bedarf konkreter Vergemeinschaftungen, die es tragen und verantworten wollen. Davon abzusehen – wie Überlegungen zu einem globalen Grundeinkommen erkennen lassen (Blasge 2014, Hillebrand 2014) – liefe auf Selbstentmündigung und Aushöhlung der Demokratie hinaus. Denn, wer sollte über eine globale Einführung entscheiden, wenn es keinen globalen Souverän gibt?

    Diese Bedingtheit ist zugleich der Grund dafür, weshalb ein BGE gerade für republikanisch verfasste Demokratien naheliegt. Sie gründen schon auf den Voraussetzungen, derer das Gelingen eines BGE bedarf – wenngleich der Bundesrat in seiner „Botschaft an die Initianten“ genau das nicht vor Augen zu haben scheint (Bundesrat 2014).[4]

    Es kann nun kaum überraschen, dass in Gemeinwesen, die sich entgegen ihrer realen Verfasstheit als republikanische Demokratien im obigen Sinne dennoch als Arbeitsgesellschaft deuten, ein elementarer Widerspruch vorliegt. Wie in vielen Diskussionen um und über das BGE scheint er verdeckt zu sein. Anton Leist ist zwar durchaus zuzustimmen, wenn er schreibt „Arbeit war in der neueren Geschichte gesellschaftsbildend“ (Leist 2014), sofern er damit im weitesten Sinne Erwerbstätigkeit meint. Gemeinschaftsbildend war sie jedoch nicht, Vergemeinschaftung liegt ihr zugrunde und umgreift sie. Besonders deswegen ist es nicht folgenlos, wenn solch elementare Vergemeinschaftungszusammenhänge wie Familie in Vergesellschaftungszusammenhänge gedrängt werden (Stichwort: Frühförderung und Ganztagsbetreuung).

    Wenn Studien, so auch sozialwissenschaftliche, herausstellen, wie sehr das Gefühl dazuzugehören von Erwerbstätigkeit abhänge, wie bedrückend der Status, arbeitslos zu sein, sei, dann ist das nicht einfach Ausdruck der „Ausgestaltung des elementaren psychologischen Gesetzes von Reziprozität“ (Anton Leist 2014). Diese Erfahrung resultiert aus einem bis heute nicht aufgehobenen Widerspruch, zwischen fundamentaler Stellung der Staatsbürger und normativer Heraushebung von Erwerbstätigkeit als Beitrag zum Gemeinwohl. In den Systemen sozialer Sicherung (Rente, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe usw.) erhält sie ihren institutionalisierten Ausdruck, der den Vorrang von Erwerbstätigkeit bekräftigt. Folgerichtig leiten sich beinahe alle Leistungen, seien sie versicherungsförmig oder nicht, von Erwerbstätigkeit ab (z. B. Rente, Arbeitslosengeld) oder sollen wieder zu ihr hinführen (z. B. Sozialhilfe). Die Erwerbstätigen gehen vor, die Staatsbürger haben das Nachsehen.

    Ein BGE, vor diesem Hintergrund betrachtet, wäre nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Konsequenz aus dem Geist republikanischer Demokratie. Es würde den Staatsbürgern, damit dem Gemeinwesen als politischer Vergemeinschaftung – und davon abgeleitet Personen mit Aufenthaltsstatus – den Platz einräumen qua Einkommenssicherung, der ihnen gebührt.

     

    [1] Der Verfasser ist Professor für Soziologie an der Alanus Hochschule in Alfter (Deutschland) und einer der Gründer der Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ (www.freiheitstattvollbeschaeftigung.de), die seit 2003 unter anderem durch öffentliche Vorträge die öffentliche Diskussion über ein Bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland fördert.

    [2] BGE ist hier verstanden als Geldleistung, die pro Person (Erwachsenen wie Kindern gleichermaßen) gewährt wird; deren Kaufkraft erlauben sollte, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten; mit der keine Gegenleistung verbunden ist.

    [3] Es gibt nun in der Tat etliche Staaten, die eine Wahlpflicht kennen und bei Unterlassung Sanktionen vorsehen, worin ein Widerspruch zum hier Gesagten zu bestehen scheint. Dabei wäre allerdings genauer zu betrachten, was eine solche Pflicht bedeutet und ob sie nicht gerade den Grundfesten einer republikanischen Demokratie entgegenläuft.

    [4] Die Schweizer Bundesverfassung spricht vom „Schweizer Volk und den Kantonen“, nicht von Arbeitern oder Erwerbstätigen als Konstituens ihrer Verfasstheit.

     

    Literatur:

    Blasge, Christian (2014), „Einen Schritt weiter: Das globale bedingungslose Grundeinkommen (GBGE)

    Bundesrat (2014). Botschaft zur Volksinitiative „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“, 27. August, https://www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&msg-id=54202

    Butterwegge, Christoph (2013), „Traumziel der Reformer. Das bedingungslose Grundeinkommen – Neuanfang oder endgültiger Niedergang des Sozialstaates?“, In: junge welt, 11. Dezember, S. 10

    Castel, Robert (2008), Die neue Verwundbarkeit. Interview mit Robert Castel, In: polar #4, S. 58 ff.

    Eichhorst, Werner (2013), „Schaffen statt Schlaraffen. Es gibt so viel Arbeit wie niemals zuvor. Ein bedingungsloses Grundeinkommen gefährdet, wofür wir hart gearbeitet haben – und würde unsere Gesellschaft zerreißen“, In: The European, Debatte: Zukunft der Arbeitswelt, 26. Juli

    Gentinetta, Katja (2014), „Freiheit für alle – Verantwortung für alle andern

    Hillebrand, Antonia (2014), Worum geht es wirklich beim bedingungslosen existenzsichernden Grundeinkommen?

    Leist, Anton (2014), „Den Gesellschaftsvertrag aufgeben?

    Liebermann, Sascha (2010), Autonomie, Gemeinschaft, Initiative. Zur Bedingtheit eines bedingungslosen Grundeinkommens. Eine soziologische Rekonstruktion, Karlsruhe: KIT Scientific Publishing

    Liebermann, Sascha (2013), „Bürgerschaftliches Engagement, demokratisches Gemeinwesen und Bedingungsloses Grundeinkommen. Begriffliche Schärfungen und ein Ausblick“, in: Georg von Schnurbein, Daniel Wiederkehr, Herbert Ammann (Hrsg.), Freiwilligenarbeit zwischen Freiheit und Professionalisierung, Zürich: Seismo, S. 85-96

    Liebermann, Sascha (2014), „Politische Gemeinschaft oder Arbeitsgesellschaft? Deutungsmuster zu Autonomie der Bürger, Solidarität und Gemeinwesen in der öffentlichen Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen“, In: Liebermann, Sascha (Hrsg.) (2014), Bedingungsloses Grundeinkommen – eine neue Form sozialer Integration?, Dokumentation des gleichnamigen Plenums anlässlich des Kongresses der Schweizer Gesellschaft für Soziologie 2013 in Bern

    Ulrich, Peter (2014), Recht auf Arbeit, Grundeinkommen oder Bürgerkapital?