Aber was, wenn man nicht allen helfen kann, die Hilfe benötigen? Sollte man dann so vielen wie möglich helfen? Man betrachte zur Illustration dieser Frage folgendes Szenario: Ein Schiffskapitän erhält zeitgleich zwei Notrufe von in Seenot geratenen Schiffen. Er ist er Einzige, der in der Lage ist zu helfen, und er kann jedes einzelne der beiden Boote – aber nicht beide – rechtzeitig erreichen. Über die in Not geratenen Schiffe weiß der Kapitän nur, dass sich auf dem einem 100 Personen und auf dem anderen fünf Personen befinden: Spielt die Tatsache, dass sich auf einem der Boote mehr Personen als auf dem anderen befinden, in dieser Situation eine ethisch entscheidende Rolle? Sollte der Kapitän, mit anderen Worten, zu dem Schiff mit der größeren Anzahl von Hilfsbedürftigen fahren, weil er hiermit mehr Personen retten würde, als wenn er das andere Boot ansteuert?
„Selbstverständlich!“, so dürften viele an dieser Stelle antworten. Wie so oft aber zeigen philosophische Überlegungen, dass die Dinge weniger eindeutig liegen, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Man kann rückfragen: Warum sollte man denn die größere Anzahl retten? Eine denkbare und beliebte Antwort lautet, dass wir die größere Anzahl retten sollten, weil dies alles in allem zum besseren Ergebnis führt. Diese Reaktion wirft aber, wie vor allem der Philosoph John Taurek argumentiert hat, mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Denn sicherlich ist es nicht für alle Betroffenen besser, wenn die größte Gruppe im oben beschriebenen Schiffsszenario gerettet wird – dies gilt nur für die Mitglieder dieser Gruppe selbst. Auch wird die Welt als Ganzes nicht dadurch besser, wenn mehr Personen überleben, als wenn weniger Menschen gerettet werden. Für gewöhnlich verstehen wir den Wert menschlichen Lebens nämlich nicht so, dass gilt: je mehr Menschen, desto besser. Darüber hinaus gibt es erwägenswerte Alternativen zu der Sichtweise, dass stets die größtmögliche Anzahl zu retten ist. Insbesondere ist der Vorschlag ernst zu nehmen, dass der Handelnde ein Zufallsverfahren entscheiden lassen sollte, wen er rettet, das jedem die gleiche Chance auf Hilfe einräumt. (Dies ließe sich im Fall von zwei Gruppen z.B. dadurch realisieren, dass man eine Münze wirft.) Denn immerhin würde auf diese Weise jedem Betroffenen eine faire Chance auf Rettung eingeräumt und niemand aufgrund zufälliger Faktoren benachteiligt.
Spielen diese Überlegungen auch für unseren Alltag eine Rolle? Ja, denn auch wenn die meisten von uns wohl glücklicherweise nie in Extremsituationen wie die geraten werden, in der sich der Kapitän im oben beschriebenen Beispiel befindet, besteht zumindest die Möglichkeit, dass uns dergleichen einmal widerfährt – und es ist sicherlich vernünftig, sich schon vorher zu überlegen, wie in derlei Situationen zu verfahren wäre. Des Weiteren können vergleichbare Entscheidungsprobleme auch dann auftreten, wenn für die Betroffenen deutlich weniger als ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht. Man stelle sich etwa vor, dass man nach einer Party nur noch zwei Kopfschmerztabletten verfügbar hat, es aber drei Personen gibt, die etwas gegen ihren Kater benötigen. Während zwei davon jeweils mit einer Tablette auskommen würden, macht die dritte Person glaubhaft geltend, beide Tabletten zu benötigen.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Frage nach der ethischen Relevanz der Anzahl überall dort zu stellen ist, wo nicht unbegrenzt viele Ressourcen für Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Niemand von uns kann schließlich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln allen Personen helfen, die auf die eine oder andere Form Hilfe benötigen. Daher muss geklärt werden, wie die begrenzten Ressourcen verwendet werden sollten und ob man z.B., wenn man einen Teil seines Vermögens spendet, dies so tun sollte, dass hiermit möglichst vielen Personen geholfen wird. Ähnlich liegen die Dinge bei der Verwendung von Ressourcen in staatlichen Gesundheitssystemen oder bei der Gestaltung von Katastrophenplänen. Auch hier ist zu fragen, ob der Ansatz, einer möglichst hohen Anzahl von Personen zu helfen, eine tragende Rolle spielen sollte.
Wir haben also sowohl als Handelnde wie auch als potentiell Betroffene gute Gründe, uns dafür zu interessieren, ob Anzahlüberlegungen ethisch relevant sind. Lässt sich die sicherlich von vielen geteilte Intuition, dass es darauf ankommt, möglichst vielen zu helfen, nun trotz der oben genannten Bedenken verteidigen? Ich denke schon. Ein in meinen Augen aussichtsreicher Versuch, der Überlegungen von Thomas Scanlon aufgreift, setzt bei der Frage an, warum wir überhaupt verpflichtet sind, Menschen in Not zu helfen. Eine plausible Antwort lautet: Wir sind dazu verpflichtet, weil Personen ein Recht bzw. einen Anspruch darauf haben, dass ihnen geholfen wird (sofern dies für den Helfer zumutbar ist). Wenn jede Person einen solchen Anspruch hat, dann gibt uns jede Person in Not auch einen starken Grund, ihr zu helfen. Wenn nun aber mehr Gründe derselben Stärke dafür sprechen, die größere Gruppe zu retten, als Gründe dafür sprechen, die kleinere Gruppe zu retten – denn in der größeren Gruppe sind mehr Personen, die einen Anspruch auf Rettung geltend machen können –, dann können wir, so scheint es, auch schlussfolgern, dass alles in allem stärkere Gründe dafür sprechen, die größere Gruppe zu retten. Diese Entscheidung wäre dann eben deshalb auch allen Beteiligten gegenüber begründbar und nicht unfair, weil sie jedem individuellen Anspruch auf Hilfe die gleiche Bedeutung im Entscheidungsprozess zuweist. Wenn sich diese Einschätzungen als haltbar erweisen, dann haben wir einen Ansatz zur Begründung der Idee gefunden, dass die Anzahl zählt, der sich nicht auf eine fragwürdige Auffassung des Werts menschlichen Lebens festlegt und auch Gerechtigkeitsforderungen berücksichtigt.
Zum Weiterlesen empfohlen:
Taurek, John (1977) „Should the numbers count?“, Philosophy and Public Affairs 6, S. 293-316. Deutsche Übersetzung in: Lübbe, W. (Hg.) Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen , Paderborn: Mentis, S. 124-143.
Meyer, K. (2005) „Eine kleine Chance für David. Überlebenswahrscheinlichkeit und Chancengleichheit“, in: Rauprich, O., Marckmann, G. und Vollmann, J. (Hg.) Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, Paderborn: Mentis, S. 127-143.