Anna und Berta teilen sich alle Haushaltspflichten, die im Alltag anfallen. Um 19 Uhr kommen Gäste, und Anna verspricht Berta, sich vorher um den Müll zu kümmern. Um 18.30 Uhr hat sie noch immer nicht den Müll herausgebracht. Sie weiß, was sie Berta versprochen hat, doch beginnt gerade ihre Lieblingsfernsehserie und sie beschließt, den Müll erst nachher herauszubringen. Dann ist es 19 Uhr, die Gäste klingeln, und der Müll steht noch immer in der Küche. Berta ist sauer.
In dieser Geschichte, die den meisten von uns bekannt vorkommen dürfte, reagiert eine Person mit einer Art von Wut oder Ärger auf den Bruch eines Versprechens, was ein typisches Beispiel für ein moralisches Vergehen ist. Solche Arten von Ärger über moralisch fragwürdiges Verhalten nenne ich im Folgenden moralische Vorwürfe oder einfach nur Vorwürfe. Im Alltag meinen wir mit „Vorwurf“ manchmal, dass man eine Person offen zur Rede stellt. Doch scheint es auch private Vorwürfe zu geben – die stille Wut auf einen Übeltäter. Mit Vorwürfen sind im Folgenden die privaten Formen von moralischem Ärger gemeint.
Vorwürfe scheinen etwas Negatives zu sein. Keiner ist gerne das Ziel von Vorwürfen, oft empfinden wir es als unangenehm, uns zu ärgern, und Vorwürfe rufen nicht selten Trotzreaktionen hervor. Und so liegt es nahe, zu fragen, ob es nicht besser wäre, wenn wir ohne Vorwürfe auskommen würden: Ratgeber wollen dabei helfen, ohne Ärger und mit mehr Gelassenheit zu leben; manche christliche Autoren halten die Sanftmut, die kaum mit Vorwürfen vereinbar ist, für eine Tugend; buddhistische Philosophen meinen, dass Ärger zu den größten Hindernissen für spirituelle Entwicklung gehört; und Freiheitskämpfer wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela werden dafür verehrt, dass sie vorwurfsfrei gegen Unterdrückung gekämpft haben.i
Angesichts dieser Eintracht in der Ablehnung der Vorwurfsemotionen überrascht es, dass die meisten Philosophen, die sich mit Vorwürfen auseinandersetzen, die Praxis des Vorwerfens verteidigen.
Niemand würde behaupten, dass alle Vorwürfe wertvoll sind. So ist es wohl kaum gut, Personen Vorwürfe zu machen, die nichts Verwerfliches getan haben. Auch sollte die Heftigkeit eines Vorwurfs der Schwere des Vergehens entsprechen, und manche Personen scheinen nicht das Recht zu haben, anderen Vorwürfe zu machen – es geht die Nachbarin nichts an, dass Anna nicht den Müll herausgebracht hat. Vorwurfsverteidiger wollen nur angemessene Vorwürfe verteidigen. Sie meinen, dass es im Allgemeinen gut ist, wenn Personen, die das Recht dazu haben, anderen Personen, die bestimmte Vergehen begangen haben, in angemessener Weise Vorwürfe machen.
Drei Argumente für diese Position werde ich nun diskutieren.
Manche Vorwurfsverteidiger meinen erstens, dass es psychisch unmöglich ist, aufzuhören, Vorwürfe zu machen.ii Wenn das stimmt, ist es sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob wir aufhören sollten, Personen ihre Vergehen vorzuwerfen. Gegen diese Position spricht jedoch, dass wir lernen können, unsere Emotionen zu einem gewissen Grad zu kontrollieren – manche Feuerwehrleute haben keine Angst vor einem gefährlichen Feuer, und es gibt Diplomaten oder Lehrer, die sich auch dann nicht ärgern, wenn sie provoziert werden. Nicht jeder von uns ist in der Lage, seine Vorwurfsemotionen vollkommen los zu werden, aber der Vorwurfsgegner kann darauf pochen, dass wir es versuchen sollten.
Zweitens behaupten manche Vorwurfsverteidiger, dass Vorwürfe notwendige Teile von etwas Wertvollem sind. Der Grundgedanke ist, dass wir notwendigerweise etwas Wertvolles verlieren würden, wenn wir aufhören, einander Vorwürfe zu machen. Eine Variante dieser Position ist Folgende: Wenn wir uns die Moral wirklich zu Herzen nehmen, wenn es uns also wichtig ist, dass Personen sich gut verhalten, dann haben wir auch die Tendenz, uns zu ärgern, wenn sie sich schlecht verhalten. Sollten wir diese Tendenz nicht haben, dann nehmen wir uns die Moral nicht zu Herzen. Und das wäre schlecht.iii
Doch kann man sich die Moral zu Herzen nehmen, ohne mit den Vorwurfsemotionen auf Vergehen zu reagieren. Berta kann etwa mit einer Art der moralischen Trauer oder Enttäuschung auf Annas Verhalten reagieren (wobei Enttäuschung kein Ärger ist). Auch so wird deutlich, dass es ihr wichtig ist, dass sich Anna richtig verhält. Wenn das stimmt, dann können wir uns die Moral zu Herzen nehmen, ohne Vorwürfe zu machen.
Die dritte und, wie mir scheint, am ehesten erfolgversprechende Weise, Vorwürfe zu verteidigen, besteht darin zu zeigen, dass Vorwürfe effektive Mittel dafür sind, Wertvolles zu erreichen oder zu erhalten: Wenn wir aufhören, Vorwürfe zu machen, würden wir zwar nicht notwendigerweise etwas Wertvolles verlieren, es wäre aber sehr viel schwerer, es zu erreichen und zu erhalten. Ökonomen um Ernst Fehr haben Studien durchgeführt, die nahelegen, dass Ärger eine wichtige Rolle dabei spielt, Normen aufrechtzuerhalten.iv Mit Bezug auf Vorwürfe könnte man dann argumentieren, dass unsere Tendenz, mit moralischem Ärger auf bestimmte Vergehen zu reagieren, dabei hilft, moralische Normen zu stützen: Bertas Ärger motiviert sie dazu, Anna zur Rede zu stellen oder auf andere Weise auf sie einzuwirken, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie in Zukunft besser handelt.
Vorwürfe haben das Potential zu Gutem und Schlechtem. Sollten wir nun insgesamt aufhören, Vorwürfe zu machen? Es wäre dann wohl deutlich schwieriger, bestimmte wertvolle Dinge zu bekommen und zu erhalten. Deshalb sollten wir die Frage verneinen.
Es ist aber wichtig, dass damit nur angemessene Vorwürfe verteidigt sind. Wir sollten aus keiner Mücke einen Elefanten machen, wir sollten uns nicht in Dinge einmischen, die uns nichts angehen, und wir sollten genau prüfen, ob sich der Übeltäter wirklich verwerflich verhalten hat. Wenn wir das beherzigen, werden wir wohl feststellen, dass wir deutlich seltener Vorwürfe machen sollten, als wir es tun.
Quellenangaben:
i Vgl. Glen Pettigrove, “Meekness and ‘Moral’ Anger,” Ethics 122, no. 2 (2012): 341–70.
ii Vgl. Peter F. Strawson, “Freiheit und Übelnehmen,” in Seminar: Freies Handeln Und Determinismus, hrsg. von Ulrich Pothast (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978), 201–33.
iii Vgl. R. Jay Wallace, “Dispassionate Opprobrium: On Blame and the Reactive Sentiments,” in Reasons and Recognition: Essays on the Philosophy of T. M. Scanlon, hrsg. von R. Jay Wallace, Rahul Kumar und Samuel Freeman (New York: Oxford University Press, 2011), 348–72.
iv Vgl. Ernst Fehr and Simon Gächter, “Altruistic Punishment in Humans,” Nature 415, no. 6868 (2002): 137–40.