Zu den folgenreichsten gehört die pädagogische Situation. Diese hat in etwa folgende Struktur:
(1) Autorisierte oder sich autorisiert fühlende Erwachsene treten mit Heranwachsenden in eine spezifische Beziehung, die sich von den zwischenmenschlichen Beziehungen in anderen Lebensbereichen grundlegend unterscheidet. Pädagogen bezeichnen diese Beziehung als «pädagogischen Bezug».
(2) Der pädagogische Bezug zeichnet sich dadurch aus, dass Erwachsene bestimmte Vorstellungen davon haben, wie Heranwachsende zu sein, was sie zu wollen, zu glauben und zu tun haben, und nach Mitteln und Wegen suchen, ihre Absichten durchzusetzen.
(3) Zur Legitimierung ihrer Erziehungsabsichten und Zielvorstellungen berufen sich die Erwachsenen auf angeblich gültige Normen und Werte, zur Rechtfertigung der von ihnen ergriffenen Maßnahmen auf entsprechende theoretische Vorstellungen (über deren Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit).
(4) Die Absichten der Erwachsenen können leicht in Konflikt geraten mit denen der Heranwachsenden, aber auch mit den Erziehungsabsichten und Erziehungsvorstellungen anderer Erwachsener. Der Ausgang des Erziehungsgeschehens ist darum offen, das Potential an enttäuschten Erwartungen groß. Wo Berufung auf Amtsautorität und der Einsatz von Mitteln der Gewalt und der Repression nicht das letzte Wort haben sollen in diesen Konflikten, wo vielmehr auf Einsicht und Verstehen gebaut und der Dialog gesucht wird, sind wir auch schon mitten in den zentralsten philosophischen Fragen, allen voran der Frage, in der nach Kant alle philosophischen Fragen (im Weltverstand) kulminieren: der Frage, was der Mensch ist, genauer, was er aus sich machen kann und machen soll.
Eine Kostprobe für diese philosophische Wendung des pädagogischen Gesprächs gibt uns der platonische Dialog Laches. Zwei Athener, beunruhigt über ihren eigenen Zustand der Unbildung, möchten zumindest ihren Söhnen die bestmögliche Erziehung zuteil werden lassen. Auf ihrer Suche nach dem geeigneten Lehrer haben sie sich begeistern lassen von einem Kurs, den ein Meister im Fechten in schwerer Rüstung anbietet, ein so genannter Hoplit. Die zwei attischen Feldherren, die sie zur Beratung beigezogen haben, streiten sich allerdings über den militärischen und sonstigen Nutzen dieser Kunst. Der zu diesem Gespräch hinzugezogene Sokrates macht – mit seinen hartnäckigen Fragen – darauf aufmerksam, dass man sich hier wohl an die falschen Fachleute gewandt hat. So wie man für die Frage, ob ein Schuhwerk gut sei für den Fuß, sich nicht an den Schuhmacher, sondern an einen Fußkundigen wenden müsse, so müsse man auch hier, wo es um das Gut-sein von Menschen gehe, nicht Sachverständige für militärische Kunst, sondern « ‹Kunstverständige› in der Be-handlung der Seele» zu Rate ziehen, um zu erfahren, wie es mit der Bekömmlichkeit dieser militärischen Kunst für den Menschen stehe.
Doch wer sind diese in der Frage des menschlichen Gut-seins Kundigen? Die militärischen Experten, so wird im Verlaufe des Gesprächs bald mal klar, sind es definitiv nicht. Sie sind nicht einmal in der Lage, über das spezifische Gut-sein Rechenschaft zu geben, das man an Soldaten besonders schätzt, die Tapferkeit nämlich. Wie aber sollten sie, wenn sie selber nicht wissen, was Tapferkeit ist, anderen zum Erwerb dieser Tugend verhelfen können?
Auch Sokrates weist es weit von sich, hier ein Experte zu sein, dennoch ist am Ende für alle andern am Gespräch Beteiligten klar, dass, wenn überhaupt jemand, nur er die Person ist, an die man sich halten kann.
Wie vielfältig die Anlässe sein könnten, über die sokratische Frage des Gut-seins nachzudenken, zeigt sich, wenn wir auf die in Erziehungssituationen am häufigsten verwendeten Vokabeln achten. Am augenscheinlichsten wird dies in institutionalisierten Erziehungssituationen im Kontext von Schule und Bildung. Um das Gut-sein dreht sich hier alles. Leistungen, Noten, Betragen, Schülerinnen und Schüler, Lehrerrinnen und Lehrer, und am Ende auch die Schulen selbst: Alles und jedes steht unter dem Dauerverdikt des Gut oder Schlecht. Und um nichts wird so sehr gestritten wie darum, was nun mit Recht als gut oder schlecht gelten kann und gelten soll. Mit etwas philosophischer Besinnung ließe sich zeigen, dass die Meinungen häufig schon darum auseinander gehen, weil man unter „gut“ höchst verschiedene Dinge versteht. Zur Illustration mögen ein paar nicht unwichtige Unterscheidungen dienen:
Das Wort „gut“ verwenden wir ganz allgemein, um Dinge zu empfehlen. Gut nennen wir sie, wenn sie den Ansprüchen genügen, die wir an sie richten. Es gibt darum ebenso viele Weisen des Gutseins wie es Arten von Ansprüchen gibt. Diesen Ansprüchen entsprechend lassen sich – und darin besteht unter heutigen Philosophen weitgehend Konsens - vor allem drei Grundbedeutungen von "gut" unterscheiden:
a) „gut“ im funktionalen oder instrumentellen Sinn: Eine Sache ist gut, wenn sie den Zweck erfüllt, für den sie (aus der Sicht des Designers oder des Nutzers) gedacht ist, oder wenn sie sich den Interessen oder Bedürfnissen der Anspruchsgruppen als zweckdienlich erweist.
b) „gut“ im moralischen Sinn: Im moralischen Sinn heißt etwas gut, wenn es den Verhaltens-Erwartungen entspricht, die wir gegenseitig aneinander richten und deren Erfüllung wir als notwendige Bedingung für ein (achtungsvolles) Zusammenleben ansehen.
c) „gut“ im ethischen (eudämonistischen) Sinn: Gut in dieser Bedeutung meint: gut, soweit es gut ist für mich selbst als Person, für ein gutes, ein lebenswertes Leben. Gut in diesem Sinne wäre, was mir bei der Bewältigung der Aufgaben hilft, die uns die “conditio humana” stellt, und bei der Konfrontation mit Fragen, welche die universellen Bedingungen der menschlichen Existenz berühren: in Grenzsituationen der Schuld, des Zufalls, des Leidens, des Todes.
Um welche dieser drei Bedeutungen von „gut“ geht es im Kontext von Schule und Bildung?
Das funktional und instrumentell Gute steht auf allen Ebenen im Vordergrund, sogar auf der höchsten; denn soziologisch gesehen besteht der Sinn von Schule in der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktionen: der Selektions-, Qualifikations- und Legitimationsfunktion. Die Frage des funktional Guten beherrscht aber auch den schulischen Alltag bis ins Letzte. „Gut“ hat dann zumeist nur die eine Bedeutung: gut ist, was mich weiter bringt auf der schulischen Karriereleiter: zu der besseren Note, der besseren Position in der Klasse, zum nächsten Abschluss, zur nächst höheren Schule usw. usf.
Dass Schule aber auch eine besondere Affinität zum moralisch Guten hat, lässt sich kaum bestreiten. Spätestens wenn Beziehungs-, Drogen- , Gewalt- und Disziplinprobleme sich verstörend bemerkbar machen, dringt auch wieder ins Bewusstsein, dass Schule immer auch eine moralische Anstalt ist: sie vermittelt Moral – es fragt sich nur welche - sie lebt Moral und sie wird immer wieder an moralischen Maßstäben (insbesondere an Maßstäben der Gerechtigkeit) gemessen.
Was an vorderster Stelle stehen müsste, steht jedoch weit ab: das Gute im ethischen Sinn: Die Schule – so wird zwar immer wieder gesagt - soll für die Schülerinnen und Schüler gut sein, sie soll ihr Leben besser machen, sie soll zu ihrem Wohle sein. Heute scheint es aber nur noch um eines zu gehen: die ökonomische Funktionalität, den ökonomischen Nutzen, Bildung als „Rohstoff“, als Standort- und Wettbewerbsvorteil, als Humankapital, das gewinnbringend verwertet werden kann. Es ist darum eine existentielle Fragen unserer Zeit, ob wir unser persönliches und unser gemeinsames Leben nur beurteilen wollen nach instrumentellen und funktionalen Gesichtspunkten oder ob wir der Frage nach dem ethisch Guten ihren Stellenwert zurückzugeben vermögen. Ohne philosophische Reflexion aber lässt sich diese Frage weder richtig stellen noch einer befriedigenden Antwort zuführen.
Literaturhinweise:
Anton Hügli: Philosophie und Pädagogik. Darmstadt 1999.
Anton, Hügli: Die Bedeutsamkeit der Philosophie für das Geschäft der Bildung, in: Studia Philosophica Vol. 65/2006, S. 13-34; Ralf Konersmann (Hg.): Das Leben denken – Die Kultur denken. Band 1: Leben, Freiburg/München 2007, S. 225-249.