Wut und Kritik

Wut verbindet, indem sie sich an die Anderen richtet, aber sie egalisiert nicht.

    Audre Lorde über das Verhältnis von Wut und Kritik1

    Für Audre Lorde stellt die Wut eine Grundverfasstheit von Subjekten dar, welche Ausbeutung und Herrschaft unterworfen sind. Wut hat dabei einen doppelten Bezug zur Herrschaft: Sie entsteht als Reaktion auf Unterdrückung, zugleich aber beinhaltet sie die Möglichkeit, der Herrschaft etwas entgegenzusetzen. Zudem hält Lorde fest, dass die Wut, die gegen innen gewendet wird, ihre transformative Kraft verliert.2 Lorde unterscheidet aber nicht nur zwischen der Wut, die sich veräußert, und der Stille, welche Unterwerfung bedeutet, sondern auch zwischen Wut und Hass: „Wenn ich im Zorn zu euch spreche, habe ich wenigstens mit euch gesprochen. Ich habe euch keine Pistole an die Schläfe gesetzt und euch nicht auf offener Strasse niedergeschossen.“3 Wenn Hass also die Pistole an der Schläfe ist und damit die Durchsetzung von Zielen mit purer Gewalt, dann zielt er auf die Auslöschung der anderen Person. Sie steht vor der Wahl, sich zu unterwerfen oder zu sterben. Die Absicht von Hass ist, wie Lorde schreibt, „Zerstörung und Tod“.4 Wut hingegen will weder den Tod noch die totale Unterwerfung. Wut reagiert vielmehr auf die Schwierigkeit und die Notwendigkeit, unter extrem ungleichen Bedingungen gemeinsam handeln zu können. Entunterwerfung5 ist bei Lorde eine Praxis, die im Ringen um eine zugleich notwendige und unmögliche Gemeinsamkeit besteht; es ist ein Ringen um einen Zusammenschluss, der sich immer erst in der Zukunft und immer nur im Konjunktiv verwirklichen kann. Lorde thematisiert dies unter anderem anhand der Beziehungen zwischen weißen und schwarzen Frauen. Dabei hält sie fest, dass diese nicht einfach ein Kollektiv bilden können. Zu groß sind die trennenden Gräben, die Unkenntnis, die Verletzungen, die Asymmetrien, die institutionalisierten und tausendfach eingeübten Ungerechtigkeiten. Die Geschichte zu einer gemeinsamen zu machen bedeutet, zu erkennen, wie unterschiedlich sie für die beteiligten Frauen ist. Während sich, wie Lorde schreibt, weiße Frauen lieber an „die kleinen dunkelhäutigen Kinder auf der anderen Straßenseite“ erinnern oder an das „geliebte Kindermädchen“, geht es aus ihrer Sicht als schwarze Frau auch um die „unfehlbare Botschaft des Taschentuchs, das eure Mutter auf der Parkbank ausbreitete, weil ich gerade da gesessen habe“ und an die „lustigen Gutenachtgeschichten eures Vaters.“6 In der Dissonanz, die diese Erinnerungsarbeit zutage fördert, zeichnet sich erst so etwas wie die Möglichkeit eines gemeinsamen Bezugsrahmens ab. Wut ist dabei ein Ausdruck einer Differenz, die gleichzeitig trennt und verbindet und damit ein adäquates Medium, um neue und subversive Relationen in einem rassistischen und sexistischen System herzustellen.

    Wut verbindet, indem sie sich an die Anderen richtet, aber sie egalisiert nicht. Sie beinhaltet die Aufforderung, jene Differenzen neu zu bestimmen, die vom Herrschaftssystem negiert, verharmlost oder mystifiziert werden. Lorde schreibt: „Wut ist der Gram über Falschheiten zwischen Gleichgesinnten, und seine Absicht ist Veränderung.“7 Wut wird in dieser Leseweise zu einem Mittel, das hegemoniale Erzählungen aufbrechen und alternative Narrative zur Sprache bringen kann. Wenn Butler schreibt, dass Kritik keiner gegebenen Kategorie folgt, sondern „eine fragende Beziehung zum Feld der Kategorisierung selbst konstitutiert“8, lässt sich dies mit Lordes Versuch in Verbindung bringen, die Beziehungen zwischen schwarzen und weißen Frauen anders zu erzählen. Lorde hat keine konsistente Gegenerzählung, aber sie stört die hegemonialen Erzählungen weißer Frauen mit einem alternativen Wissen, mit der Erwähnung der Parkbank, welche die weiße Mutter abwischt, nachdem das schwarze Kind darauf gesessen hat, und mit den rassistischen Gutenachtgeschichten, über die sich der weiße Vater und das weiße Kind amüsieren. Damit zeigt sie die Grenzen der verklärenden Erinnerungsarbeit auf und verweist auf eine spezifisch weiße Amnesie. Sie stellt aber auch neue Bezüge her: Die Szene auf der Parkbank ist keine schöne Geschichte, aber sie ist eine gemeinsame Geschichte. In der Arbeit an den Rissen der epistemologischen Felder zeichnen sich neue Formen der Kollektivität ab.

    Für Lorde gibt es also eine Beziehung zwischen Wut, Widerstand, Sprache und Erkenntnis. Lorde’s Text richtet sich – das wird auch formal durch die vielen dialogischen Einschübe deutlich – primär an diejenigen, welche sich ebenfalls gegen die vorherrschenden Formen von Herrschaft wenden. Sie adressiert ein Kollektiv, das sich als Zusammenschluss all jener denken lässt, die sich dem Regiertwerden widersetzen, mit dem Ziel, „die Bedingungen, unter denen wir leben und arbeiten wollen, zu prüfen und neu zu bestimmen.“9 Lorde geht es darum, ein „Wir“ zu formieren, auch wenn dieses erst einmal durch Angriff, Konfrontation und Dissonanz zustande kommt. Es ist diese immer schon mitgedachte Kollektivität der Kritik, die ihren Ansatz von anderen Ansätzen unterscheidet. Damit eröffnet sie einen eigentlich positiven Bezug zur Wut, durch die Möglichkeit nämlich, andere Subjekte mit einem Wissen zu konfrontieren, das die vorherrschende Ordnung stört und eine Differenz zum Vorschein bringt, an der gemeinsames Handeln ansetzen kann.


    Quellen:

    1 Dieser Text ist ein Ausschnitt des Artikels „Nicht so regiert werden wollen. Zum Verhältnis von Wut und Kritik“, erschienen in: transversal. multilingual webjournal 4 (2008). Eine längere Fassung des Artikels wurde zudem publiziert in Mennel, Birgit/Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald (Hg.): Kunst der Kritik, Wien/Berlin: Turia + Kant 2010, 149-159.

     

    2 Audre Lorde, „Vom Nutzen unseres Ärgers“, in: dies. / Adrienne Rich, Macht und Sinnlichkeit, übers. von Renate Stendhal, Orlanda: Berlin 1993, S. 97. Die deutsche Übersetzung wurde leicht verändert.

     

    3 Ebd., S. 105.

     

    4 Ebd., S. 102.

     

    5 Michel Foucault, Was ist Kritik?, übers. von Walter Seitter, Merve: Berlin 1992, S. 11f.

     

    6 Ebd., S. 98f.

     

    7 Ebd., S. 102.

     

    8 Judith Butler, „Was ist Kritik. Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50(2002), S. 249-65, hier S. 255.

     

    9 A. Lorde, „Vom Nutzen unseres Ärgers“, op. cit., S. 108.