Der „gesunde Kranke“ – Fundamentaler Informationskonflikt

„Wissen ist Macht“ – dieses Credo war und ist nicht nur die Hintergrundfolie für das rechtliche Empowerment des Einzelnen im Verhältnis zur Staatsgewalt, sondern prägt ebenso die rechtlichen und ethischen Maximen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Arzt und Patient.

    „Wissen ist Macht“ – dieses Credo war und ist nicht nur die Hintergrundfolie für das rechtliche Empowerment des Einzelnen im Verhältnis zur Staatsgewalt, sondern prägt ebenso die rechtlichen und ethischen Maximen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Arzt und Patient: Damit der Hilfesuchende sich nicht ohnmächtig in seine Abhängigkeit begeben und darin ergeben muss, sondern kraft seines ihm zugeschriebenen Status als Rechtssubjekt auch faktisch mitentscheiden kann („Selbstbestimmungsrecht“), muss er zuvor über „Wesen, Bedeutung und Tragweite“ der ihm angebotenen ärztlichen Behandlung (in Relation zu möglichen Behandlungsalternativen) aufgeklärt werden. Weil das Spektrum potentiell bedeutsamer Fakten allerdings meist nicht wirklich überschaubar absehbar ist, tendiert eine an der Utopie „objektiver Wahrheit“ (= „Vollständigkeit“) orientierte Aufklärungspflicht zur Grenzen- und Uferlosigkeit. Die ärztlich-medizinische Seite hat sich hiermit inzwischen durch Verwendung umfangreicher Aufklärungsformulare arrangiert; vom ohnehin hilfebedürftigen und vorrangig mit seiner eigenen Erkrankung beschäftigten Patienten wird jedoch erwartet, dass er auch noch die Überfülle an fachspezifischen Informationen trotz seiner Laienperspektive erfasst und für seine persönliche Entscheidung bestens zu nutzen versteht.

    Die Realitätsferne und allseitige Zumutung dieser Konzeption schien um der bezweckten „Patientenautonomie“ willen so lange hinnehmbar, wie ein klar definiertes Krankheitsbild mit wenigen Therapieoptionen einer nur beschränkt interventionsfähigen „alten Medizin“ in Frage stand. Die Dynamik des medizinischen Fortschritts hat das Spektrum an Möglichkeiten heute aber auf vielen Anwendungsfeldern derart vervielfältigt, dass von einem „informed consent“ mehr und mehr nur noch der Form halber die Rede sein kann. Mit der Entdeckung und Erforschung der humangenetischen Grundlagen für Krankheiten wie für Therapieoptionen hat sich die Problematik mittlerweile nochmals verschärft: Die genbedingte Anlageträgerschaft verheißt im Banner einer „personalisierten Medizin“ nicht nur künftig „maßgeschneiderte“, auf den jeweils individuellen Patienten abgestimmte Therapien, sondern dem Einzelnen einen „Blick in die Zukunft“ – freilich in der Regel nicht einer determinierten, sondern lediglich einer möglichen. Das vorweggenommene Wissen ist also zumeist „Risikowissen“, nur mehr statistisch quantifizier- und in seiner tatsächlichen Relevanz für das individuelle Schicksal nicht vorhersehbar. Dem neugierigen Gesunden droht auf diese Weise der Verlust seiner Unbefangenheit und Lebensfreude und eine Existenz nur noch unter dem fortwährenden Damoklesschwert des drohenden Krankheitsschicksals – und die menschliche Neugier zählt wohl zu den unhintergehbaren anthropologischen Konstanten der conditio humana. Dass diese Antizipation selbst krank machen kann und im Übrigen vor allem keine lebenskluge Wahl ist, wenn es hiergegen keine Vorsorgemöglichkeit gibt, ist eine sich erst langsam Bahn brechende Einsicht. Zu groß ist offenbar die Versuchung des „Gen-Orakels“, das nicht wenige dazu verleitet, auch ohne medizinische Fragestellung die eigene Neugier zu befriedigen (sog. „direct-to-consumer-tests“), und kaum jemand bedenkt die Folgen, nach den Früchten dieses Baumes zu greifen.

    Recht und Ethik suchen der Gefahr jedoch in jüngerer Vergangenheit entgegenzuwirken: Das seit dem Jahr 2009 geltende Gendiagnostikgesetz verlangt vor und nach Durchführung eines prädiktiven (d.h. allein auf künftige Erkrankungen oder auf fortpflanzungsrelevante Anlageträgerschaften gerichtete) Gentests eine professionelle humangenetische Beratung: Diese erschöpft sich gerade nicht in einem neutral-nüchternen Informationstransfer zugunsten eines „Kunden“, sondern ist von der Fürsorge in Bezug auf die individuelle Lebenssituation des „Klienten“ geprägt, für die zu einer gemeinsamen Entscheidung gefunden werden soll. Zudem verbürgt das Gesetz erstmals ein sog. „Recht auf Nichtwissen“, das den Einzelnen mit dem Anspruch auf strikte Beachtung dazu ermächtigt, ein ärztliches Informationsangebot bewusst abzulehnen. Damit ist nunmehr von Rechts wegen anerkannt, dass auch das Freisein von belastendem Wissen die „Autonomie“ des Einzelnen schützt und befördert. Gegenwärtig öffnet sich die Perspektive der medizinrechtlichen und -ethischen Debatte, indem zunehmend erwogen wird, ob diese individuelle Rechtsbefugnis nicht auch jenseits der Humangenetik für sämtliche Gesundheits- bzw. Krankheitsdaten von Bedeutung ist (vgl. www.recht-auf-nichtwissen.uni-goettingen.de). Dass die Unbefangenheit der Entscheidung eine Klärung und Begrenzung des Informationsinteresses vor Vornahme der Untersuchung voraussetzt, wird insbesondere dann wichtig, wenn mit den anschließenden Befunden zuvor schlechterdings nicht gerechnet werden konnte. Dies ist nicht nur, aber vor allem bei Teilnahme von Probanden an Forschungsstudien häufig der Fall: Da hier die sog. Zufalls- oder Zusatzbefunde („incidental/additional findings“) nicht zu vermeiden sind, bedarf es weit größerer Sorgfalt bereits vor Studienbeginn wie auch einer neuen – empathischen – „Aufklärungs- und Beratungskultur“ im Ganzen – und dies letztlich wegweisend für sämtliche Anwendungsfelder des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Die „Autonomie“ des Patienten oder Probanden ernst nehmen erfordert mehr, als diesen mit einer Überfülle an Informationen auf sich alleine gestellt seinem Schicksal zu überlassen.

    Weiterführende Literatur

    • BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“: Empfehlungen zum anwendungspraktischen Umgang mit dem sog. „Recht auf Nichtwissen“, in: MedR 34 (2016), 399-405
    • Deutscher Ethikrat: Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung, Berlin 2013
    • Duttge/Engel/Zoll (Hrsg.): Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Recht und Humangenetik, Göttingen: Universitätsverlag, 2011
    • Kollek/Lemke (Hrsg.): Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt/Main: Campus, 2008
    • Langanke/Erdmann/Robienski/Rudnik-Schöneborn (Hrsg.): Zufallsbefunde bei molekulargenetischen Untersuchungen, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag, 2015
    • Propping/Aretz/Schumacher/Taupitz/Guttmann/Heinrichs (Hrsg.): Prädiktive genetische Testverfahren, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2006
    • Propping/Schott (Hrsg.): Auf dem Weg zur perfekten Rationalisierung der Fortpflanzung? – Perspektiven der neuesten genetischen Diagnostik (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina), Berlin 2014
    • Wehling (Hrsg.): Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript-Verlag, 2015