Die Geschichtswissenschaften und die Kunst der Prognose

Die zu Beginn der Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte „Foundation-Trilogie“ des Science-Fiction-Autors Isaac Asimov nimmt ihren Ausgang von einer Prognose: Der geniale „Psychohistoriker“ Hari Seldon sagt den Untergang des galaktischen Imperiums voraus.

    Zwischen dessen Zusammenbruch und der Formierung einer neuen Gemeinschaft wird eine 33.000 Jahre umfassende Phase des Chaos liegen. Daraufhin entwickelt Seldon einen „Tausendjahresplan“, der das zu erwartende Leid durch die Verkürzung der Übergangsepoche minimieren soll. Die gesamte Dynamik von Asimovs Erzählung wird durch die doppelte Eigensinnigkeit des Prognosebegriffs bestimmt: Einerseits ist prognostisches Handeln, wie Kai Brodersen festgehalten hat, „das Bemühen um ‚Vorwissen‘ durch Zukunftsvorhersagen“. Dieses Vorwissen wird jedoch durch die Zukunftsvorhersagen selbst wieder in Frage gestellt: Jede Prognose verändert durch ihr schieres Vorhandensein die Ausgangslage, mit der sie selbst gerechnet hat.

    Darüber hinaus irritiert an Asimovs Erzählung, dass Hari Seldon ausgerechnet eine Form der Geschichtswissenschaft betreibt, die Prognosen erzeugt. Sind Geschichtswissenschaften nicht immer auf die Vergangenheit bezogen? Was sollen Geschichtswissenschaften mit Zukunftsvorhersage zu tun haben? Doch in der Tat lassen sich vier Kontaktzonen zwischen Prognostik und Geschichtswissenschaften ausmachen: Da wäre zunächst die Möglichkeit zu nennen, eine Geschichte der Prognostik zu schreiben (1); darüber hinaus können die Geschichtswissenschaften die Funktionsweise von Prognosen erklären (2); drittens ist Geschichtsschreibung selbst ohne prognostische Einsprengslungen undenkbar (3) und viertens lassen sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Überlegungen zur zukünftigen Geschichte prognostischer Techniken formulieren (4).

      1 – Wie könnte man eine Geschichte der Prognostik schreiben? Sie müsste als Rekonstruktion des menschheitsgeschichtlich beständig anzutreffenden Bemühens angelegt sein, Vorwissen über die Zukunft anzusammeln, um auf diese Weise die Zukunft bewusst gestalten, ja sie beherrschen zu können. Diese Geschichte der Prognostik wäre eine Kulturgeschichte prognostischer Techniken und Technologien, aber auch eine Geschichte konkreter Prognosen früherer Epochen. Solche Prognosen wären, wie man unter Aufnahme einer Begriffsbildung Reinhart Kosellecks sagen könnte, Formen „vergangener Zukunft“, d.h. Vorstellungen von der Zukunft, die in der Vergangenheit entwickelt wurden (und mithin nicht notwendig Wirklichkeit geworden sind).

    2 – Wie funktionieren Prognosen? Prognosen mögen häufig in Gestalt absoluter Sätze begegnen („Zum Zeitpunkt X wird Y“), doch können sie eigentlich immer nur Wahrscheinlichkeitsannahmen wiedergeben. Wie Koselleck hervorgehoben hat, basieren Zukunftsvoraussagen immer auf Erfahrungen aus der Vergangenheit: Die Wahrscheinlichkeit eines Geschehens – die Erwartung – wird aus den gemachten Erfahrungen abgeleitet; je umfassender die Erfahrungssammlung, desto gesicherter ist eine Prognose. Prognosen setzen jedoch Annahme über „Wiederholungsstrukturen“ in der Geschichte voraus: Weil sich Dinge unserer Wahrnehmung nach wiederholen und mithin Vergleichbarkeit gegeben ist, können wir Voraussagen über die mögliche Zukunft treffen. Da in der „Geschichte immer mehr geschieht oder weniger, als in den Vorgegebenheiten enthalten“ und sie „immer neu und überraschungsschwanger“ ist, besteht, wie Koselleck konstatierte, auch ein Moment der Einmaligkeit, das Voraussagen ungeachtet aller Erwartungen konterkariert.

    3 – Inwieweit ist jede Geschichtsschreibung prognostisch? Die Geschichtswissenschaften sind nicht allein auf eine sterile und ‚neutrale‘ Rekonstruktion der Vergangenheit ausgerichtet, weil diese praktisch nicht hergestellt werrden kann: Jede historische Rekonstruktion ist Produkt einer bestimmten Gegenwart, die sich immer auch begrifflich und theoretisch in der historischen Analyse niedergeschlagen hat. Doch da die Gegenwart ein flüchtiger Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, wird Geschichte in jeder Gegenwart immer auch mit Blick auf eine erwartete Zukunft geschrieben. Jörn Rüsen hat dies als die „Orientierungsfunktion“ der Geschichtsschreibung bezeichnet: Seines Erachtens „zeichnen sich große Historiker durch ihre Sensibilität für Veränderungen im Erwartungshorizont ihrer Zeit und durch ihre Fähigkeit aus, diesen Veränderungen gemäß die Vergangenheit neu zu deuten. Denn in dieser Übertragung von zukunftsgerichteten Erwartungen und Absichten auf die Erfahrung der Vergangenheit besteht die Orientierungsfunktion der Historie.“

    4 – Wie kann man aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive über eine zukünftige Geschichte der Prognostik nachdenken? Wie jede zukünftige Geschichte ist auch die Geschichte der Prognostik im digitalen Zeitalter noch ungeschrieben. Es lässt sich jedoch darüber nachdenken, welche Kategorien ihr dereinst zugrunde liegen müssen. Es wird nicht reichen, sie als reine Technikgeschichte anzulegen; vielmehr wird eine Kulturgeschichte der Technik erforderlich sein, die auf eine Rekonstruktion des Gebrauchs dieser Technologien abzielt. Doch entlang welcher Leitlinien und Themen könnte sie entwickelt werden? Welche Eigenheiten würden die digitale Epoche gegenüber anderen Phasen der Geschichte der Prognostik auszeichnen?

    Den Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage stellt eine Projektion technologischer Möglichkeiten dar: In immer größerem Maße werden prognostische Technologien entwickelt, die darauf basieren, äußerst umfangreicher Datensammlungen (Big Data) mittels Algorithmen für Zukunftsvorhersagen zu erschließen. Gegenüber anderen Phasen der Geschichte der Prognostik sind der hohe Grad an Übertragung prognostischer Aufgaben an Maschinen und Progamme, die Umfassenheit der Sammlung an Erfahrungswissen und die Vielfalt der prognostischen Anfragen neuartig; ebenso die daraus ableitbaren erhöhten Grade an Präzision und Individualisierung. Zugleich jedoch werden prognostische Techniken veralltäglicht: als nützliche Helfer, aber auch als stille Beobachter des Alltags. Neben solche Beobachtungen müssen auch die Wahrnehmungen und Bewertungen dieser Entwicklungen treten. Hier spalten sich die Erwartungen: Einige sehen in den modernen Prognosetechnologien Hilfsmittel, die ihnen freie Zeit verschaffen oder Orientierung geben können; andere betonen beispielsweise, dass die technologischen Strukturen selbst die Wahrnehmung selektiv beschränken, ja steuern und mithin zu einem Freiheitsverlust führen. Ob sich eine der extremen Alternativen von Befreiung oder Entmündigung durchsetzt oder sich ein dritter Weg herauspräpariert, wird die Pointe jeder zukünftigen Geschichte der Prognostik im digitalen Zeitalter sein.

     


    Literaturempfehlungen: Asimov, Isaac: Die Foundation-Trilogie, München 2012; Big Data, Aus Politik und Zeitgeschichte 65, 11-12/2015, abrufbar unter: http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/202251/big-data; Brodersen, Kai (Hrsg.): PROGNOSIS. Studien zur Funktion von Zukunftsvorhersagen in Literatur und Geschichte seit der Antike, Antike Kultur und Geschichte 2, Berlin 2001; Koselleck, Reinhart: Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, S. 203–221; Rüsen, Jörn: Utopie und Geschichte, in: Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Erster Band, Stuttgart 1985, S. 356–374.