Seit geraumer Zeit wird die Selbstverständlichkeit darüber, was gesund und was krank ist, in Frage gestellt. Viele Bereiche der Gesellschaft werden medikalisiert. Den Begriff der Medikalisierung prägte in den 1970er-Jahren der Philosoph Ivan Illich. Medikalisierung bedeutet, dass jene Lebensbereiche, die lange nicht als Felder der Medizin galten, nun zu einem Thema der Medizin gemacht und in diesem Zuge mit Krankheit in Verbindung gebracht werden. Diese Entwicklung stellt uns vor ethisch vollkommen neue Fragen, etwa jene, ob ungewollte Kinderlosigkeit eine Krankheit ist. Ein weiterer Bereich, der stark medikalisiert wird, ist das Alter(n): Die Anti-Aging-Medizin boomt, Menschen versuchen sich möglichst lange fit und jung zu halten und nutzen bei Bedarf medizinische Möglichkeiten zur Unterstützung. Aber ist das Altern eine Krankheit oder wird dies lediglich gesellschaftlich so vermittelt?
Grundsätzlich ist Altern ein lebenslanger Prozess, der mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Üblicherweise sprechen wir jedoch ab einem gewissen Lebensalter von Altern. „Das Alter“ steht für eine Lebensphase. Wann jedoch die Lebensphase des Alters eintritt, wird gesellschaftlich bestimmt. In dieser Hinsicht lässt sich ein gesellschaftlicher Wandel konstatieren: Menschen, die noch vor 30 Jahren bereits als alt galten, gelten heute nicht mehr als alt. Das liegt u.a. daran, dass Menschen häufig später Kinder bekommen als in früheren Generationen und sich auch in der Karriere vieles nach hinten verschiebt, v.a. im akademischen Umfeld.
Ihr eigenes Altern wird Menschen meistens erst ab einer gewissen Lebensphase bewusst: mit den ersten körperlichen Veränderungen, wie Falten und der Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit und dem Wahrnehmen der Endlichkeit, das impliziert, dass die eigenen Möglichkeiten während der Lebenszeit begrenzt sind. Es zeigt sich im Rahmen der Medikalisierung des Alters, was aus gesellschaftlicher Sicht sein soll und was nicht sein soll. Über die Gesellschaft vermittelte Vorstellungen von „gutem Altern“ beeinflussen die Individuen erheblich und das Alter wird auch ohne Krankheitsbezug von vielen, wenn nicht als Krankheit, so doch als etwas einer Krankheit Ähnliches wahrgenommen, woran man leidet. Mittels Botox, Vitaminbehandlungen ohne Krankheitsbezug bis hin zu Straffungen und Auffüllen verschiedener Körperpartien, wird das Bild des jungen leistungsfähigen Menschen als Norm propagiert.
Menschen, die am Alter(n) nicht leiden, sondern es als wichtigen Prozess in ihrem Leben sehen, der auch positive Seiten mit sich bringt, und die deshalb auch keine Anti-Aging-Maßnahmen in Anspruch nehmen, sind freilich nicht krank, sie gehen lediglich anders mit dem Alter um. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Biographie und dem persönlichen Identitätsverständnis wären mögliche Wege, um dem Alter etwas Positives abzugewinnen. Hierbei die Medikalisierungstendenzen zu ignorieren und seinen eigenen Vorstellungen von gutem Altern zu folgen, zeugt von einer starken Persönlichkeit.