Aufgaben der Philosophie im Alltag

Mindestens drei Aufgaben hat die Philosophie, besser: ein Philosophieren, im Alltag zu erfüllen.

    Als erstes hilft sie uns, auf Themen und Probleme, denen wir täglich begegnen, mit Begriffen, Argumenten und einem kritischen Denken sowie mit existentiellem Ernst zu begegnen. Dafür bietet sie zweitens einen schier unermeßlichen Fundus von vorbildlichen Denkern und Maßstäbe setzenden Gedanken, die uns vor einem zu einfachen, gegenwartsfixierten Wahrnehmen und Antworten bewahren. Schließlich macht sie unseren Blick und unser Leben frei für den „Nutzen des Nutzlosen“.

    Diese drei Aufgaben tauchen nicht etwa brav getrennt auf. Sie greifen vielmehr ineinander, wie ich in meinen zwei letzten Studien sowohl an zahlreichen Beispielen als auch angesichts von Grundfragen zu praktizieren suche, in „Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik“ (2014) und in „Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne“ (2015).

    Nehmen wir als Beispiel eine verbreitete Moral- und Gesellschaftsdiagnose vieler, namentlich sogenannter gesellschaftskritischer Debatten. Das Beispiel hat also eine alltägliche und zugleich generelle Bedeutung: Angeblich ist die Welt moralisch gesehen schlechter geworden, die Menschen nämlich hedonistischer und egoistischer, ihre Gier größer und die Macht des Geldes stärker. Diese Veränderung sei nicht etwa zufällig, vielmehr aus vier Gründen erfolgt: Erstens sei die Moral an Religion gebunden, weshalb die moderne, säkularisierte Gesellschaft ihr bestenfalls im Privatleben ein Recht lasse. Zweitens bezeichne sie etwas Unbedingtes, sei folglich von Metaphysik abhängig und habe sich ebenso wie diese überlebt. Weiterhin bestehe die Gesellschaft aus autonomen Teilgesellschaften, die je eigenen Verbindlichkeiten folge, was dem Begriff der Moral, ihrem Anspruch auf universale Gültigkeit, widerspreche. Und nach einem vierten Grund seien zwar auch für liberale Gesellschaften moralische Verbindlichkeiten lebenswichtig, wegen ihrer Liberalität hätten diese Gesellschaften aber Schwierigkeiten mit der Moral.

    Tatsächlich sind für unsere liberalen Gesellschaften vier Bereiche charakteristisch, und sie alle sind von moralischen Antriebskräften wesentlich mitbestimmt. Darin zeigt die Moral ein erstes Mal ihre Macht; sie tritt als eine Initialmacht auf:

    Einem ersten Bereich, dem Komplex Naturwissenschaft-Medizin-Technik, liegen ohne Zweifel humanitäre Interessen zugrunde. Der Komplex will nämlich die Mühsal des Lebens mindern, die Arbeit erleichtern, elementare Not, Krankheiten und Seuchen bekämpfen und generell der Gesundheit dienen. Ein zweiter Bereich, die konstitutionelle Demokratie, führt die Herrschaft von Menschen über Menschen, soweit sie überhaupt notwendig ist, auf die Menschen selbst zurück und bindet die Herrschaft an Grundrechte, Gewaltenteilung und die Zustimmung der Betroffenen. Für das rationale Wirtschaften wiederum stammt das berühmteste Werk von einem langjährigen Lehrstuhlinhaber für Moralphilosophie: Adam Smith propagiert den freien Markt nicht aus Parteinahme für Unternehmer; im Gegenteil weiß er um die monopolistische Wirtschaftspolitik von Kaufleuten und Manufakturbesitzern. Zugunsten des Freien Marktes spricht seines Erachtens ein gemeinwohlfreundliches Ergebnis: Das Kapital erbringt geringeren Gewinn, die Arbeit erhält höheren Lohn und die Preise sinken.

    Weil das darin angesprochene Gemeinwohl aber nicht immer von allein zustande kommt, pflegen liberale Gesellschaften eine vierten Bereich, den Sozialstaat. Und dieser hat sich mittlerweile zur neuen sozialen Frage hin geöffnet, zur Umweltverantwortung und einer darüber hinausreichenden Generationengerechtigkeit. In dieser Öffnung deutet sich eine grundsätzliche Aufgabe an: Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen zu meistern, auf die in den letzten Jahrzehnten mit einer zunehmenden moralischen Sensibilität geantwortet wird. Hier zeigt sich keineswegs eine gesunkene, viel eher eine gewachsene Macht der Moral an.

    Niemand darf freilich so naiv sein zu glauben, man dürfe mit der heutigen Welt zufrieden sein, da sie doch all ihre Herausforderungen sachgerecht und zugleich moralisch angemessen meistere. Deshalb erhält die Moral eine weitere Aufgabe. Sie gibt sich nicht mit einer Initialmacht zufrieden, entfaltet vielmehr zusätzlich eine Kontrollmacht. Sie richtet sich zum Beispiel auf die Einschätzung der dem Komplex Naturwissenschaft-Medizin-Technik innewohnenden humanitären Chancen. Sie verlangt hier Ehrlichkeit und Nüchternheit; Forscher dürfen nicht mehr versprechen, als sie auf klar absehbare Weise halten können. Daß führende Molekuarbiologen auf dem Londoner Ciba-Symposium 1962 eine keimfreie, der Gefahr von Infektionserkrankungen enthobene Welt erwarteten, ferner ein schmerzfreies und dank Organtransplantationen endloses Leben, schließlich eine wesentliche Verbesserung der menschlichen Genausstattung, zeugt von Hybris. Wer derartige Hoffnungen in die Welt setzt, ohne vorab die Schwierigkeiten gründlich zu studieren, wer die Autorität des erfolgreichen Forschers zu schwärmerischen Träumereien mißbraucht, überdies mit ihnen zunächst „moralische“, dann finanzielle Unterstützung sucht, handelt unverantwortlich.

    Und wo bleibt unsere dritte Aufgabe des Philosophierens, der Nutzen des Nutzlosen?

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