Der Begriff der Biopolitik wurde von Michel Foucault geprägt und seither auf verschiedenste Weise interpretiert und weiterentwickelt.[1] Während im klassischen Verständnis der Fokus vor allem auf die Verwaltung von Lebensprozessen durch politische Massnahmen lag – Geburtenkontrolle, Hygieneregeln, Krankenvorsorge etc. –, wird heute zunehmend das einzelne Individuum nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt biopolitscher Optimierungsprozesse begriffen. Das Leben ist «nicht nur Gegenstand politischen Handelns und tritt mit diesem in ein äusserliches Verhältnis, sondern affiziert den Kern des Politischen.»[2] Biopolitik wird nicht nur vom Staat betrieben, sondern hat sich im Innern liberaler kapitalistischer Gesellschaften eingenistet. Vier Aspekte dieser Verschiebung sollen im Folgenden etwas genauer beleuchtet werden.
Prävention und Enhancement
Medizin und Pharmazie haben ihren Zuständigkeitsbereich zunehmend erweitert. Nicht nur das Heilen gehört zu ihren Aufgaben, auch das Vorbeugen, die biologische Wartung des Körpers durch Vorsorgeuntersuchung, Vitaminpräparat und Anti-Aging-Therapie. Die Grenze zwischen gesundem und krankem Körper verblasst, denn jeder Körper kann als potentiell krank begriffen werden, dem Zerfall ausgesetzt, auch wenn sich noch keine Symptome zeigen.
Zudem wird der menschliche Körper weniger und weniger als stabile Einheit, als vorgegebene Hülle wahrgenommen, sondern «als offen für Strategien und Techniken der Modifikation, Anpassung und Enhancement»[3] Der Körper soll kräftiger werden, das Hirn leistungsfähiger. Kinderlosigkeit gilt nicht als Schicksal.
Adressat moderner Biopolitik ist somit nicht nur ein Teil der Bevölkerung, auch nicht die Bevölkerung als Ganzes, sondern jedes einzelne Individuum sieht sich vor die Frage gestellt, inwiefern es seinen Körper vor möglichen Gefahren schützen und sich in seinen biologischen Fähigkeiten optimieren will. Es trägt Verantwortung. Insofern lässt sich von einer Demokratisierung und Liberalisierung der Biopolitik sprechen. In normativer Hinsicht gilt damit nicht mehr ein Staat, der mit totalitären Massnahmen auf die Körper seiner Bürger zugreift, als Schreckgespenst, sondern eine Gesellschaft, die sich selbst der biopolitischen Kontrolle unterwirft. Wer sich der Verantwortung entzieht, das Beste aus seinem Körper zu machen, gerät unter Rechtfertigungsdruck.
Expertentum und Ökonomisierung
Die genannte Entwicklung hat zur Folge, dass der Einzelne zunehmend auf Expertenwissen angewiesen ist, um zu verstehen, was ihm droht, oder wie sich sein Körper optimieren lässt. Zu den klassischen Experten, den Ärzten und Pharmazeuten, gesellen sich Ernährungsberater, Fitnesstrainer und Psychotherapeuten. Zudem spielt sich die biologische Wartung und Optimierung des Lebens zunehmend auf molekularer Ebene ab.[4] Antidepressiva, gentechnische und fortpflanzungsmedizinische Verfahren, deren Mechanismen für den Laien undurchschaubar sind. Die Experten erhalten somit bedeutende Interpretationsmacht, die Grenzen zwischen Zwang und Zustimmung werden fliessend.
Dies gilt es vor allem auch in den Kontext der Ökonomisierung von biopolitischen Massnahmen zu stellen. Mit Sorgen und Ängsten lässt sich Geld verdienen. Die Interessen sind gegeben, sowohl vonseiten der Experten als auch vonseiten der Hersteller von entsprechenden Präparaten. Das Leben wird kapitalisiert.[5] Hier werden die biopolitischen Herausforderungen der Zukunft liegen, nicht im Kampf gegen staatliche Zwangsmassnahmen, die häufig mit dem Begriff der Biopolitik assoziiert werden.
- [1] Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collége de France 1975-76. Frankfurt/M. 1999, S.276-305. Für eine Übersicht zu verschiedenen biopolitischen Ansätzen siehe: Andreas Folkers & Thomas Lemke (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader. Frankfurt/M. 2014.
- [2] Lemke, Thomas: Biopolitik. Hamburg 2007, S.23.
- [3] Folkers & Lemke, S.46.
- [4] Rose, Nikolas: The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power, and Subjectivity in the Twenty-First Century. Princeton, 2007, S.11.
- [5] Rose, S.31.