Martha Nussbaum erkennt mit psychologischem Scharfsinn, dass der einstige Skandalroman „Wuthering heights“ tatsächlich eine große abendländische Denktradition bricht – die der platonischen und der christlichen Liebe[6]. Während die platonische und christliche Liebe den Aufstieg der Erkenntnis sucht, also die Sublimierung des Irdischen im Ideal, wie sie Platons Diotima und Dante Alighieri beschreiben, suche die leidenschaftliche Liebe der Hauptfigur der „Sturmhöhe“, Cathy, vielmehr den Abstieg, den eigenen Ausbruch aus dem pietistischen Ideal in eine hemmungslose Sinnenwelt. Nussbaum vergisst in ihrer Gegenüberstellung von platonischer und christlicher Liebe einerseits und Brontes Konzept der Liebe als Leidenschaft andererseits bei allen äußeren Gegensätzen jedoch die grundlegende Gemeinsamkeit. Liebe war nie, weder bei Plato, noch bei Dante, ein rein sentimentaler Affekt. Liebe hatte propädeutischen Charakter: sie sollte zur Wahrheit führen und somit die Dialektik von Schein und Sein überwinden. Genau dasselbe Ziel hat Cathys Leidenschaft für Heathcliff. Was sich geändert hat seit Platon und den Trinkgenossen Sokrates´ hin zu Brontes Heldin, ist nicht die Definition der Liebe als solcher als ein Wegweiser zur Wahrheit und Vollkommenheit – das ist ja gerade stabil geblieben – sondern vielmehr die kulturellen Umstände, unter denen diese Suche sich entwickeln kann. Galt es bei Platon, die Welt des Scheins durch fortschreitende Abstraktion zu durchdringen und über den Umweg über Künste und Wissenschaften immer klarere Begriffe von dem zu entwickeln, was ist, den unsterblichen Ideen nämlich[7], und hatte auch der Intellektuelle christlicher Prägung noch einen Bezug zu den Sinnendingen, die bei Dante und den Mystikern als „Wege zu Gott“ sprich zur Erkenntnis der Wahrheit gedeutet wurden, entscheidet sich die asketische viktorianische Welt des 19. Jahrhunderts für eine radikale Abkehr von der sinnlich erlebbaren Welt. Hier wird nichts durchdrungen, sondern verneint, verdrängt und schließlich in Gewalt überführt. Die Sprengkraft der bronteschen Schilderung ist im Grund eine politische Aussage, indem am Beispiel der verzweifelten Liebe zweier Individuen in der intensiven Repressivität der viktorianischen Zeit tatsächlich die Erkenntnis hemmende Einstellung jener Epoche dargestellt wird, die wirklich eine große abendländische Denktradition bricht. Jener Bruch mit der Denktradition einer Philosophie, welche die Liebe als erkenntnisfördernd ansieht, ist die epochale Verneinung der sinnlich erlebbaren Welt, welche nicht nur die erotische Liebe als Akt, sondern auch deren traditionelle Sinndimension: Gleichnis für das Wissen um Wahrheit zu sein, massiv erschwert und somit alle Personen ungewollt zu Akteuren der Gewalt macht. Gewalt im Dienste der Wahrheit, oder Gewalt mangels Erlebbarkeit der Wahrheit – ein neurotisches Programm nicht nur des 19. Jahrhunderts.
Verzeichnis der verwendeten Literatur:
Bataille, Georges, Emily Bronte et le mal, in: Critique Nr. 117, Paris 1957
Nussbaum, Martha, Upheavals of thought. The intelligence of emotions, Cambridge University Press New York 2001
Zizek, Slavoj, Die Pest der Phantasmen, Wien 1997
Erklärung philosophischer Fachbegriffe:
Abstraktion: Von lateinisch abstrahere (wegziehen), Denkprozess, der von Einzelheiten absieht und aufs Allgemeine hinführt
Asketisch: Von griechisch askein (üben), Selbstdisziplin und Enthaltsamkeit, hier: Abkehr vom Sinnlich-Körperlichen
Dionysisch: Von Dionysos, griechischer Gott des Weins und des Rausches, bei Friedrich Nietzsche zugleich eine Stilfigur zur Illustration des zerstörerischen Prinzips in der Kunst
Idee: Von griechisch idea (Gestalt), im Allgemeinen denkerisches Konzept, bei Platon zudem die Urform alles Seienden
Narrativ: Von lateinisch narrare (erzählen), auf die erzählte Geschichte oder die Erzählstruktur bezogen
Pietistisch: Von lateinisch pius (fromm), Frömmigkeit, hier: frömmlerisch, übertrieben
Repressivität: Von lateinisch reprimiere (zurückhalten, verdrängen), Unterdrückung, Willkür
Seinsgrund: Ursache des Seins, der Erkenntnis. Bei Mystikern wie Meister Eckhart (1260-1328) zugleich göttliche Wirklichkeit
[1] Heathcliffs jahrelange Abwesenheit von zuhause wird von S. Zizek als Kontingenzbrechung verstanden, vgl. S. Zizek, Die Pest der Phantasmen, Wien 1997, S. 41
[2] vgl. G. Bataille, Emily Bronte et le mal, in: Critique Nr. 117, S. 14
[3] ebenda
[4] M. Nussbaum, Upheavals of thought. The intelligence of emotions, Cambridge university press New York 2001, S. 475
[5] G. Bataille, Emily Bronte et le mal, in: Critique Nr. 117, S. 14
[6] M. Nussbaum, Upheavals of thought. The intelligence of emotions, Cambridge University Press New York 2001, S. 593
[7] Platon, Symposion 210e