Gefühle können von vielen Perspektiven aus betrachtet werden; sei es neurologisch-medizinisch, biologisch-evolutionär oder philosophisch mit Blick auf Emotionen als eine „natürliche Art“. Dann sind sie Gegenstände der Wissenschaft und können als solche mehr oder weniger verstanden werden. Doch aus einer anderen Perspektive scheint es problematischer, ja grundsätzlich fragwürdig, und zwar ausgerechnet aus der alltäglichen Perspektive, in der wir Menschen direkt miteinander und mit uns selbst umgehen. Was heißt es, ganz konkrete, bestimmte, einzelne Gefühle einer anderen Person oder von sich selbst zu verstehen? Da hilft die Wissenschaft nur zum Teil. Zugespitzt lautet das Problem: Kann man nicht nur Rationales verstehen und sind Gefühle nicht definitorisch etwas Irrationales, oder zumindest A-rationales?
Doch: Sich von diesem Gedanken einschüchtern zu lassen, hieße, den Begriff und unsere Praktiken des Verstehens zu unterschätzen. Man muss bedenken, wie vielfältig einsetzbar der Verstehensbegriff ist. Zum einen tritt er in ganz unterschiedlichen Kontexten auf, hat also diverse Objekte. Wir können eine Äußerung akustisch verstehen, eine fremde Sprache verstehen, einen mathematischen Beweis, Phänomene wie den Regenbogen, eine Handlung oder eine Person. Die Erläuterungen des Verstehens gehen dabei in ganz verschiedene Richtungen. Etwa als das Identifizieren sensorischer Konturen, als Analyse von Struktur und Aufbau, als Subsumieren von Einzelnem unter Allgemeineres, also Anwenden von Gesetzen, als Spezifikation des Zwecks bzw. der Funktionen oder als Deutung in Bezug auf Kontexte. Als gemeinsamen Grundzug vieler Verstehensprinzipien kann man die Idee nehmen, dass Verstehen heißt, Regularitäten zu erkennen; also zu erkennen, welchen Regeln das Interpretandum folgt und es einordnen zu können (vgl. das sogenannte Hempel-Oppenheim-Erklärungsprinzip). Das ist eine objektive Angelegenheit. In den Naturwissenschaften sind das die Naturgesetze, in der Sprache sind es die Regeln von Grammatik und Gebrauch. Doch für andere Bereiche treten Zweifel auf, ob dies wirklich das Prinzip ist, mit dem erfasst wird, was man meint, wenn man vom Verstehen spricht. Dazu gehören Objekte der Geisteswissenschaften wie Geschichte und Literatur. Und dazu gehört das menschliche Gegenüber – besonders, seine Gefühle.
Zunächst aber kann man an Gefühle genauso herangehen: Was sind Regelmäßigkeiten, die es erlauben, einzelne Gefühle irgendwie zuzuordnen und damit in gewissen Hinsichten verstehen zu können? Dafür ist eine Fokussierung notwendig: Unter „Gefühle“ als alle Erlebnisse, die sich „anfühlen“, fallen verschiedene Phänomene; von Körperempfindungen wie einem Kribbeln im Bauch bis hin zu Stimmungen der Melancholie. Ich beschränke mich hier für die Frage nach dem Verstehen auf die Phänomene dazwischen, nämlich Emotionen, wie wir sie unter ihren speziellen Namen kennen: Freude und Angst, Wut und Trauer, Neid, Eifersucht oder Liebe (wobei Liebe ein besonders komplexes Phänomen ist, das nur teilweise ähnlich wie die anderen Emotionen konzipiert werden kann).
Solche Emotionen kann man als eigenständige Phänomene ansehen, das heißt als nicht reduzierbar auf Überzeugungen, Wünsche oder Körperempfindungen – auch wenn sie mit diesen eng verknüpft sind. Emotionen, so kann man zusammenfassen, sind eine qualitativ erlebte (und oft auch körperlich manifeste oder auch in Mimik und Ausdruck sichtbare) Weise, etwas in der Welt für persönlich bedeutsam aufzufassen. Wovor ich mich fürchte, das fasse ich als bedrohlich für mich auf – körperlich oder psychisch. In dieser Formulierung wird deutlich, dass es intentionale Phänomene sind. Das heißt, mit Emotionen beziehen wir uns auf etwas in der Welt, sie sind nicht nur innere Zustände.
Schon diese wenigen Andeutungen helfen zu sehen, in welchem Sinn man Emotionen verstehen kann, wenn man mit Verstehen im weitesten Sinn Regularitäten Erkennen meint: Man kann verstehen, welcher Emotionstyp vorliegt, wer oder was ihr Gegenstand ist und was ihr Anlass oder Grund ist. Warum jemand über einen Lottogewinn traurig sein sollte, ist auf den ersten Blick unverständlich. Wenn man aber erklärt bekommt, dass der Gewinner seitdem nicht mehr klar zwischen Freunden und Leuten unterscheiden kann, die nur Geld von ihm wollen, kann man verstehen, dass mit viel Geldbesitz tatsächlich auch etwas Problematisches verbunden sein kann. Um Emotionen zu verstehen, muss man also Regeln erkennen: einen Bezugspunkt in der Welt, der den Emotionstyp verständlich macht – darüber hinaus aber muss man oft sehr viele Details des Lebens und der Geschichte einer Person kennen, um ihre Emotionen richtig verstehen zu können. Hierbei kann man von einer „narrativen Erklärung“ sprechen, in der man die verschiedenen Aspekte einer Emotion zusammenfasst, sie zu einem Ganzen macht, das verständlich ist. Dazu gehört zum Beispiel auch noch die Rolle, die eine Emotion für den psychologischen Kontext einer Person spielt, etwa ob sie das Selbstbild der Person stützt, und deshalb auftaucht, oder auch, was ihre Auswirkungen sind, das heißt, welche ihrer Handlungen vielleicht nur aus dieser Emotion heraus zu erklären sind, etwa aus einem versteckten Groll heraus. Eine narrative Erklärung zeichnet sich vor anderen Erklärungen dadurch aus, dass der Zusammenhang, den man zwischen dem zu erklärenden Phänomen und anderen herstellt, nicht auf strengen allgemeinen Regeln beruht. Eine Geschichte ergibt nicht aufgrund von Ursache-Wirkungs-Verhältnissen eine sinnvolle Einheit. So gilt es auch für Gefühle. Um ihre Ausrichtung und Entstehung zu verstehen, setzen wir keine Elemente nach Gesetzen zusammen, sondern im Sinne einer Geschichte, deren Kohärenz wir über Vergleich erkennen: Und zwar letztlich im Vergleich mit Narrationen zu selbst erfahrenen Gefühlen. Wie es sich anfühlt, einen bestimmten Emotionstyp zu erfahren und wie Emotionen untereinander zusammenhängen, wie sich etwa Trauer in Wut verwandeln kann und ähnliches, das muss man bei ungewöhnlicheren Fällen selbst erfahren zu haben, um Elemente zu einer narrativen Erklärung sinnvoll zusammenfügen zu können. An diesem Punkt geht das Verstehen von Emotionen über die Kern-Bedeutung von Verstehen hinaus. In diesem Sinn braucht es für das Verstehen von Emotionen anderer auch Emotionen auf Seiten des Verstehenden, und das Verstehen ist nichts rein Objektives, sondern verlangt, dass etwas von der eigenen Subjektivität eingebracht wird.
(Was hier angedeutet wird, findet sich ausgeführt in dem Buch von Eva Weber-Guskar: „Die Klarheit der Gefühle. Was es heißt, Emotionen zu verstehen“. De Gruyter 2009).