Das Herz hat seine Gründe, heißt es bei Blaise Pascal. Keine beliebigen: Auf seine ganz eigene, besondere Weise ist das Herz auf die Welt gerichtet, möchte Pascal damit zum Ausdruck bringen. In einer Haltung der Offenheit und der grundsätzlichen Bejahung, ist es in der Lage, etwas zu erschließen, das die Vernunft nicht begreifen kann: Werte.
Die Metapher des Herzens steht für die Liebe. Auch hier weist uns Pascal darauf hin, dass er eine bestimmte Weise von Liebe meint: Es ist eine solche, die Gründe hat. Beziehen wir uns auf die Gründe der Liebe, können wir angeben, warum wir uns für oder gegen etwas entschieden haben, warum uns etwas zuspricht oder wir uns von etwas zurückziehen, warum wir uns von etwas angesprochen fühlen oder warum wir uns abwenden. Sind das denn aber nicht Entscheidungen, Eindrücke, Entschlüsse, zu denen wir durch unsere Vernunft gelangen und die wir mit unserer Sprache logisch begründen? Schließlich können wir all dies ausdrücken in Worten, mit denen wir uns Anderen mitteilen, die deshalb begreifen, nachvollziehen können, was uns dazu bewogen hat.
Es stimmt: Wir erklären uns und unsere Art, unser Leben zu führen, indem wir uns zur Sprache bringen, die einen logischen Aufbau hat und mit der wir definieren können, was für uns ansprechend ist, warum wir auf diese und jene Weise gehandelt haben. Was also meint Pascal damit, wenn er sagt: Das Herz hat seine Gründe?
Betrachten wir die Liebe, von der hier die Rede ist, genauer. Die Liebe als jene Haltung der Offenheit, als eine Haltung, die Bereitschaft und Hinwendung gegenüber dem Begegnenden ausdrückt, darf nicht mit flüchtigen Gefühlen, Affekten, Leidenschaften verwechselt werden. Sie ist auch nicht bloß Emotion wie Freude, Zorn oder Trauer. Auch diese Befindlichkeiten haben ihre Zeit und vergehen. Die Liebe in der Haltung der Offenheit ist ein Aspekt des Wesens des Menschen. So wie der Mensch mit Vernunft begabt ist, so ist er auch mit Liebe begabt: Die Vernunft erfasst mit ihren Gründen logische Strukturen, formuliert Begriffe und Gesetze, ordnet mit Hilfe der Sprache, was in der Welt durch sie begriffen wird. Die Liebe richtet sich auf Werte; dabei sucht sie nicht einen bestimmten Wert in dem, wer oder was ihr begegnet, sondern findet immer weitere Werte, die im Anderen zuvor für sie noch nicht sichtbar waren. Das sind ihre Gründe. Damit ist durchaus nicht gemeint, dass diese denjenigen der Vernunft über- oder unterlegen ist. Damit ist gemeint, dass es wesentlich andere sind. Diese bestimmte Art von Liebe steht der Vernunft nicht ausschließend entgegen, so wie auch die Vernunft nicht der Liebe entgegengesetzt ist. Vielmehr sind ihre beiden Erkenntnisweisen auf einander verwiesen: Während die Liebe die Werte erschließt, findet die Vernunft die Worte dafür. Die Vernunft verhilft uns zudem dazu, eine Ordnung in diesen Werten zu formulieren, die wir ausmachen können, wenn sie von der Liebe erschlossen wurde. Etwa, dass Freiheit für uns bedeutsamer ist als leckeres Essen, dass aber auch zu essen wertvoll ist, um uns gesund und lebendig zu halten.
Damit ist zunächst einmal in groben Zügen beschrieben, dass der Mensch zwei Erkenntnisweisen hat, zwei Zugänge zu dem, was ihm in der Welt begegnet. In dieser Perspektive wurde Max Scheler von Pascals Satz inspiriert, seine Moralphilosophie zu formulieren. Wer in einer Moralphilosophie und Erkenntnistheorie der Vernunft die Liebe zur Seite stellt, der berücksichtigt, dass der Mensch mit der Welt, mit dem, was ihm in der Welt begegnet, auf eine bestimmte Weise verbunden ist, dass er eine Bindung mit dem Begegnenden eingeht. Was bedeutet das, wenn die Liebe, wie bereits beschrieben, als eine Haltung der Offenheit und nicht als eine flüchtige Emotion, nicht als ein Gefühl verstanden wird, das sich nach kurzer Zeit wieder auflöst? Was bedeutet es, wenn wir in dieser Haltung der Offenheit einem Anderen begegnen und, da die Liebe die Erkenntnisweise ist, die die Werte erschließt, in ihm auf immer neue Werte aufmerksam werden? Was bedeutet es, wenn wir jemanden kennen lernen, indem wir einsehen, welche Werte ihn ausmachen?
Verliebtheit und Leidenschaften sind auf ein bestimmtes Bild des Anderen gerichtet, ein Ideal, das der Andere verkörpert; sie ergehen sich in sich selbst und meinen den Anderen nicht wirklich, der ihnen eher als Mittel zum Zwecke des Empfindens von Emotionen dient. Die Verliebtheit ist so flüchtig, wie die Attribute des Anderen, auf die sie sich bezieht, von denen sie sich angezogen fühlt. Auch der Verliebtheit - wer wollte das bestreiten - kommt ein Wert zu, sie fühlt sich großartig an, beschwingt, versetzt uns in Freude und Glücksempfinden. Sie bewertet, zweifelsohne. Aber erschließt sie dabei Werte?
Der Liebende hingegen weiß um den Anderen als Anderen: Es klingt paradox und doch ist in der Haltung dieser Liebe die Distanz zwischen den Personen größtmöglich. Will ich den Anderen wirklich verstehen, dann darf kein Ideal, kein Bild, keine Erwartung meine Offenheit ihm gegenüber verstellen. Kein Besitzanspruch, kein Machtverhältnis, kein Bewerten, kein Urteilen. Den Anderen sein lassen können bedeutet, sich wahrhaft einlassen zu können.
Der Raum, der sich zwischen beiden in dieser Distanz ausbreitet, ist jedoch kein Raum der Isolation, sondern ein gemeinsamer Raum der Gestaltung. Nur dort, wo Liebe und Freiheit Hand in Hand gehen, ist die Kreativität echter Selbst- und Wir-Gestaltung möglich.