Kann eine Handlung moralisch gut und dennoch nicht geboten sein?

Supererogationsurteile zwischen Anerkennungspraxis und Selbstbetrug

    Während die meisten Moraltheorien drei Handlungskategorien unterscheiden, nämlich das Gebotene, das Erlaubte und das Verbotene, scheint uns unsere moralische Praxis allzu oft mit Handlungen zu konfrontieren, die nicht so recht in dieses Schema zu passen scheinen: Wir alle kennen solche Beispiele von Personen, die freiwillig mehr für andere Menschen tun, als wir von ihnen erwarten, deren persönlichem Einsatz wir hohe Anerkennung entgegenbringen, wenngleich wir das Unterlassen solcher Handlungen nicht als tadelnswert betrachten. Man denke aktuell etwa daran, dass wohl jeder von uns Menschen kennt, die sich angesichts der anhaltenden Flüchtlingskrise ehrenamtlich engagieren, die womöglich dazu bereit sind, trotz erheblichen finanziellen wie auch zeitlichen Einsatzes, Geflüchtete bei sich zu Hause aufzunehmen oder, die gar unter Einsatz ihres Lebens dazu bereit sind, in Krisengebieten humanitäre Arbeit zu leisten.

    Um unserer moralischen Praxis an dieser Stelle Rechnung zu tragen, wird daher oftmals so argumentiert, dass diese Phänomene eine eigenständige Handlungskategorie konstituierten, nämlich die der Supererogation.i Unter supererogatorischen Handlungen werden dabei (grob gesagt) solche verstanden, die zwar moralisch gut (und sogar besser als zur Verfügung stehende Handlungsalternativen), nicht jedoch moralisch geboten sind. Etwas zugespitzter ist auch von einem über die Pflicht hinausgehendem guten Handeln die Rede.

    Doch gibt uns unsere moralische Praxis tatsächlich einen guten Grund dafür, anzunehmen, dass es eine solche Handlungskategorie gibt und dass sämtliche Moraltheorien, die nicht über eine solche Kategorie verfügen, daher zurückzuweisen sind? So argumentiert zumindest J.O.Urmson in seinem 1958 erschienenen Aufsatz „Saints and Heroes“, der gemeinhin als Anstoß der moralphilosophischen Supererogationsdebatte betrachtet wird.ii

    Dieses Argument erscheint intuitiv höchst plausibel zu sein, vermag aber letztlich nicht zu überzeugen. Nun ist es schwerlich zu bestreiten, dass es die zur Rede stehenden Phänomene gibt. Doch wenn unsere diesbezüglichen, auf unserer moralischen Praxis basierenden Intuitionen, gleichsam als Begründung der Existenz von Supererogation dienen sollen, dann scheint dies eine positivistische Moraltheorie zu implizieren. Die Phänomene selbst können daher nicht unmittelbar darüber Aufschluss geben, ob es Supererogation gibt. Es muss vielmehr jenseits des Verweises auf die Phänomene begründet werden, warum es sich dabei um eine gute theoretische Erklärung des Phänomens handelt. Diese Begründungsaufgabe ist eine zweifache:

    Erstens muss gezeigt werden, dass das Konzept an sich kohärent ist, d.h. es muss gezeigt werden, warum supererogatorische Handlungen nicht geboten sind, obwohl sie die moralisch bessere der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen darzustellen scheinen.iii Der Verweis auf vermeintliche Fälle supererogatorischen Handelns kann über die Beantwortung dieser begrifflichen Begründungsfrage jedoch keinen Aufschluss geben.

    Zweitens muss gezeigt werden, dass es sich bei der strittigen Kategorie um eine nicht-leere Kategorie handelt. Mit Blick auf diese zweite Begründungsaufgabe scheint es nun gerade interessant zu sein, dass sich bei der Bewertung von vermeintlich supererogatorischen Handlungen in der Regel eine Diskrepanz zwischen Innen- und Außenperspektive feststellen lässt: Das Urteil, dass jemand mehr getan hat, als seine Pflicht ist eines, das aus der Beobachterinnenperspektive plausibel ist, während die Akteurinnen selbst, glaubt man ihrem Zeugnis, ihr Handeln nicht selten als geboten betrachten. Mit Blick auf die Frage nach der Existenz einzelner supererogatorischer Handlungen erhärtet sich das Begründungsproblem also gar dahingehend, dass sich bereits in der moralischen Praxis selbst Gründe gegen eine solche Annahme finden lassen.iv

    Will man die Aussagen jener Akteurinnen nicht schlicht als fehlerhaft oder als Ausdruck (übertriebener) Bescheidenheit zurückweisen, so gibt diese Beobachtung hinreichend Anlass dazu, nicht vorschnell sämtliche Moraltheorien zurückzuweisen, die nicht über eine Kategorie der Supererogation verfügen, sondern vielmehr zunächst unsere mithin widersprüchlich anmutende Urteilspraxis einer kritischen Reflexion zu unterziehen: Insofern wir Handlungen nämlich supererogatorischen Status zuschreiben, mag das zwar einerseits Ausdruck unserer Anerkennung, bisweilen sogar Bewunderung sein und gerade zu suggerieren, dass es sich um ein gutes Beispiel handelt, dem es nachzueifern gilt. Andererseits scheinen wir uns durch derartige Urteile oftmals (und womöglich ungerechtfertigterweise) der Verpflichtung zu entledigen, ebenso zu handeln, oder aber retrospektiv unserem schlechten Gewissen, nicht so gehandelt zu haben. Und das wirft zumindest die Frage auf, ob es sich womöglich nicht bloß als ein Irrtum oder ein Kategorienfehler erweist, herausragende Handlungen anderer als supererogatorisch zu betrachten, sondern vielmehr als eine Gefährdung der eigenen Moralität, weil es allzu leicht zum Selbstbetrug einlädt.


    i Etymologisch geht der Begriff der Supererogation auf das lateinische Verb „supererogare“ zurück und bezeichnet übergebührliches Handeln bzw. das Erbringen einer Mehrleistung. Erst im Christentum, genauer gesagt in der römisch-katholischen Theologie, erfährt der Begriff eine Erweiterung in den Bereich des Ethischen. Einen wichtigen systematischen Bezugspunkt hierfür stellt das Gleichnis des barmherzigen Samariters dar. Vgl. G.Mellema (1991): Beyond the Call of Duty: Supererogation, Obligation, and Offence, Albany, 14ff.

    ii J.O.Urmson (1958): „Saints and Heroes“, in: I.A.Melden (Hg.): Essays in Moral Philosophy, Seattle, 198-216.

    iii Die Quelle dieses Paradoxes wird gemeinhin auch als good-ought tie-up bezeichnet. Sie besteht also in einem angenommenen konzeptuellen Zusammenhang moralischer Güte und moralischer Pflichten. Vgl. D.Heyd (1982): Supererogation. Its Status in Ethical Theory, Cambridge, 167.

    iv Vgl. S.C.Hale (1991): „Against Supererogation“, American Philosophical Quarterly 28, 273–285.