In Liebe, Dionysos

Eine philosophische Kurzgeschichte

    Alles im Universum ist Energie, Frequenz und Vibration.“

    Nikola Tesla

     

    „Erkennen Sie mich, Herr Nietzsche? Wissen Sie, wer ich bin?“

    „Aber ja!“ Der Mittvierziger wirkte mit einem mal lebhaft und heiter, als er die Hand des hageren Herrn in Weiß schüttelte: „Wir hatten schon das Vergnügen, nicht wahr?“

    Stirnrunzelnd blickte der Mediziner von den umfangreichen Notizen seines Kollegen auf dem Schreibtisch hin zu dem, der vor ihm saß. Er sah den Patienten, der ihn mit gleichmütiger Gelassenheit – als ob nicht wüsste, wo er war – musterte, in Wirklichkeit zum ersten Mal und stöberte unsicher in der Krankenakte. „Strabismus, Dementia, progressive Paralyse“ stand da, doch mit einem kleinen Fragezeichen versehen, einem erkennbaren Haken des Zweifels, typisch bei den vorläufigen Verdachtsdiagnosen. Der noch junge Arzt, dem der ungewöhnliche Fall gerade weitergereicht worden war als Baustein seiner eigenen Karriere, wirkte überfordert. Wie so oft, wenn auf der Landkarte der medizinischen Wissenschaft plötzlich weiße Flecken auftauchen, um eine „terra incognita“ zu markieren, entschied der Fachmann, dass der geballte Einsatz von Fremdwörtern sein Ansehen retten könnte:

    „Es ist notwendig, nun die Ätiopathologie zu durchleuchten.“ Auf die stumme Frage hin, die sich im arglos-heiteren Gesicht seines gebildeten Gegenübers abzeichnete, folgte die sonore Übersetzung des Wortungetüms: „Krankheitsgenese“. Wieder herrschte ratloses Schweigen diesseits und erwartungsvolle Heiterkeit jenseits des Schreibtischs, wo der Schnauzbärtige plötzlich anfing, den Takt eines Musikstücks, das nur er hörte, in der Luft zu dirigieren. Der Schüler von Hippokrates ergriff nun erneut das Wort, um die Stille zu brechen: „Sie geben an, dass Sie sich in Ihrer Jugend zweimal (er hüstelte impertinent) – „spezifisch infiziert“ – haben? Ist das richtig?“

    „Ja doch,“ der Musikus des Unsichtbaren lächelte jovial, „in meiner Studienzeit. Wie viele andere auch.“

    „Sie wissen ja, dass Syphilis schwerwiegende Folgen haben kann, Spätfolgen für das Gehirn. Wir wollen die Symptome unter Beobachtung halten. Manchmal kommt es vor, dass Menschen, die (er hüstelte wieder) erkrankt sind, sich ihres Zustands gar nicht bewusst werden. Herr Nietzsche, ich muss Sie offen fragen: wissen Sie, weshalb wir uns hier treffen?“

    „Aber ja! Sie fühlen sich nicht wohl, mein Freund!“

    Tief Luft holend schloss der junge Arzt die Tür seines Besprechungszimmers in der Nervenheilanstalt Friedmatt hinter seinem ungewöhnlichen Patienten, der sich auf dem Flur noch einmal umdrehte und ihm freundlich zuwinkte. Er sah zu, wie jener kleiner und kleiner wurde und zuletzt im Gang verschwand, von der behutsamen Pflegerin in der wolkigen Flügelhaube begleitet wie von einem solidarischen Geist, der in eine neue, bessere Welt abheben will.

     

    Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck

    19.01.1889

    Lieber Franz,

    Ich schreibe dir heute vergnügt und alert, obwohl ich weiß, dass sie meine Briefe abfangen. Ich höre Dein Schweigen, es dringt durch die Mauern. Sie haben mich hierhergebracht. Das ist ein historischer Moment, Franz. Der Physiologe der Geschichte wird von den Physiologen des Antichrist gerichtet. Doch ich widerstehe. Ich lache sie aus, wenn sie in meinem Ohr raunen, ich leiste ihren Befehlen zur Unterwerfung Widerstand, biete meinen Willen zur Macht gegen ihren Willen, den meinigen zu brechen: ich, der Tyrann von Turin.

    Dein Friedrich

     

    Nietzsches Hauptwerk „Der Antichrist – Fluch auf das Christentum“ (1888) enthielt eine Abrechnung mit den „Irrtümern“ der biblischen Lehre und eine Hinwendung zu einer neuen Moral, die am Himmel erstrahlen soll wie Musik aus einer reineren Sphäre, ohne pfäffischen Dunst. Doch schon viel früher hatte er die Idee des „Dionysos“ erschaffen, der für ihn Moralbegriff, Weltenretter und heilloser Heiland war. Den trinklustigen Gott aus der griechischen Mythologie gab es natürlich schon, doch was der Philosoph aus Sachsen daraus gemacht hat, war ein eigenes Konzept: „Dionysos“ sollte Sinnbild für das Rauschhaft-Ekstatische sein, für Drama und Musik, Werden und Vergehen, Leidenschaft und – auch wenn es seinerzeit in guter Gesellschaft nur medizinische oder moraltheologische Begriffe dafür gab – das „Sexuale“. All das, was im 19. Jahrhundert noch verdrängt wird, gärt in diesem Philosophen: er ist ein Fäulnisbehälter seiner Zeit, er handelt mit Affekten, die er nicht steuern kann, weil er sie nicht unterdrücken will wie die Anderen, und deshalb sind seine Nerven chronisch überreizt. Was der Denker nicht weiß, ist, wo seine Feinde sind. Doch im Dämmer seines Zustands zwischen Euphorie und äußerster Niedergeschlagenheit ahnt er erstmals, dass er welche hat und dass sie seine Schwächen nutzen, dass man nicht ungestraft kühne Gedanken über die psychologische Beeinflussung der Massen aussprechen darf, die man als Erster weiter verfolgt als bis zur Anekdote.

    Im gleichen Jahr 1889, als ein Mann, der vielleicht genial war, sich von den unsichtbaren Furien klerikaler Rache verfolgt sah, tüftelte ein anderer, der mit Sicherheit genial war, an seiner neusten Erfindung im Bereich der praktischen Physik. Mittels der Entdeckung einer in der Natur vorkommenden longitudinalen Welle, die er „Skalarwelle“ nannte, in ihrer elektrischen Form sollte die Übertragung von Informationen auf Distanz in einer nie dagewesenen Form möglich sein – Daten jeder Art, Empfindungen, Geräusche, Musik, auch heilende Energie. Es war Nikola Tesla.

     

    Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck

    25.02.1889

    Lieber Franz,

    Du fragst mich nun, wer „sie“ sind, Franz? Die Christen, die ich angeblich so hasse? Nicht doch. Du weißt doch, dass einige meiner besten Freunde Christen sind. Mit Christen habe ich mich oft gut unterhalten. Die Juden, glaubst du? Keinesfalls. Du solltest mich besser kennen. Habe ich nicht gesagt, dass ich die jüdischen Gemeinden für die menschlichsten unter allen halte? Wegen der humanen Ehescheidungsgesetze. Warum sollte man wegen eines einmaligen Fehlers sein Leben, seine Existenz riskieren? Die Juden sind nicht das Problem, lieber Franz; sie sind es nicht, die ich hasse, noch weniger die, die ich fürchte. „Sie“, das sind die Anderen.

    Sie folgen mir, Franz. Für heute Schweigen.

    Friedrich Dionysos

     

    Es war ein ungewöhnlich kurzes Gespräch unter Angehörigen, zu dem der noch junge Arzt an diesem Frühlingsabend in der Klinik Jena gerufen hatte, in die man den Denker aus Sachsen nach seinem Aufenthalt im Schweizer Friedmatt verlegt hatte. Der Weißgekleidete hatte wenig Zeit, wollte Karriere machen, und ein Fall, der so ersichtlich ausweglos erschien wie dieser, der den Versuchen spottete, von der Verdachtsdiagnose zur endgültigen Einordnung hin zu evolvieren, auch wenn man – wie gewöhnlich – die eigene fachliche Ratlosigkeit unter lateinischem Wortgepränge begrub, brachte ihm statt fachlicher Lorbeeren nur Disteln, kurz: die irritierende Krankenakte musste vom Tisch. Hoffnung auf Besserung bestünde nicht, erklärte der Mediziner ohne Umschweife; besser sei es, wenn die Angehörigen ihn mitnähmen und zu Hause pflegten. Die kleine alte Frau weinte, sie schob trotzig ihr Taschentuch vor und mimte betroffenes Märtyrertum, während die Schwester mit kluger Gelassenheit nur langsam den Fachmann musterte und betont fragte, wann und wie der Umzug nach Hause geschehen sollte. „Noch im März, ohne Umstände,“ lautete die Antwort des hippokratischen Jüngers, und männliche Hände fassten dazu bekräftigend in weibliche.

     

    Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck

    28.02.1891

    Franz, Geliebter!

    Die Zeit ist nah, Trommeln des Untergangs dröhnen. Quäl mich nicht mit Fragen, wer die „Anderen“ sind. Sie sind mir auf den Fersen. Es ist die Kirche Satans, Franz. Sie wollen mich holen. Sie kommen, um mich zu holen. Täglich dringt ihre unheimliche Musik an mein Ohr, raunen ihre Befehle in mir, ein Ende zu setzen mit mir, mit allem. Es ist alles zu spät.

    In Liebe, Dionysos

     

    Noch bevor der Philosoph wieder „zu Hause“ angekommen war, gaben die Ärzte besorgt zu erkennen, dass sich in seinem Krankheitszustand nun „Irrsinn mit Blödsinn abgewechselt“ habe: Nietzsche lachte scheinbar ohne Grund, machte Faxen. Und immer wieder hörte er Musik – Klänge, die nur er selbst vernehmen konnte, und Befehle, die nur er selbst verstand, doch nicht leise und unklar, sondern klar und deutlich, als ob eine Stimme mit ihm gesprochen hätte. Ein sogenanntes „quartäres Stadium der Syphilis“ könnte die Ursache sein, folgerten die Diagnostiker, sowohl für seinen Kollaps in Turin 1889, als auch für seine manischen Episoden in Friedmatt 1889, und auch für die akustischen Halluzinationen und Wahnideen, welche die Kollegen in Jena beobachtet hatten. Doch alle diese Symptome, so sprechend sie im Einzelnen auch waren, ergaben im Gesamt kein eindeutiges Bild einer Ursache – nicht für die damalige medizinische Wissenschaft. Schon leidet der philosophische Ruf Nietzsches massiv, und akademische Kollegen beginnen, seine Schriften lächerlich zu machen; denn hier spräche ein Gehirnkranker, mahnen sie nicht ohne die neidische Süffisanz, die den Mittelmäßigen stets zu eigen ist. Ein Einziger widerspricht der moralinsauren Theorie von der Ansteckungsverursachung: Professor Otto Binswanger, für den die Zerrüttung des Denkers Folge einer andauernden seelischen Überlastung durch das Umfeld war – maximaler „Stress“, wie man später dazu sagen sollte.

     

    Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck

    07.05.1892

    Geliebter Franz!

    Im Irrtum haben wir gelebt, du und ich, dem Spinnen-Gott sind wir gefolgt, der uns blutleere Abstraktionen gab, statt in Dionysos´ Heimat zu tanzen nach dem Gong im Innern, der immerwährend schlägt. Hier ist Leben, hier ist Leidenschaft, verglühen will ich lichterloh, nicht vertrocknen.

    Barfuß will ich den Gleisen des Orient-Express folgen in die Wüste, Lou1 aus dem Zug greifen und auf ein wildes Pferd setzen; gemeinsam reiten wir durch Kurdistan.

    Trommeln will ich zum Weltenende, wenn Lous gärender Schoß ein neues Zeitalter ausspeit, wenn Blut und Knochen in ihm gekocht werden und ein neues Menschengeschlecht entsteht, ewig im Werden und Vergehen, ich werde die Trommel schlagen, und die Sterne winken mir zu.

    Dionysos

     

    In einem kleinen Haus am Stadtrand wird der stille Friede zuweilen jäh unterbrochen: Schreie des Glücks, „Juch-Hu-hu“-Rufe, gepaart mit den heftigsten Klavierakkorden wie von einem rauchgiftsüchtigen Beethoven, zerreißen die Luft, unerwartete Kadenzen in erschütternder Dramatik oder aber fröhlicher Dissonanz strahlen auf wie irregeleitete Raketen und landen brüsk in der Erde. Dann folgt wieder Stille, wie Totenstille, eine unheimliche Ruhe voll spannungsreicher Erwartung, in der sich der kommende Ausbruch bereits unmerklich vorbereitet wie eine elektrische Entladung in der Luft, die für Sensible schon im Voraus zu spüren ist.

    Der junge Erfinder kann in dieser Nacht nicht ruhig schlafen, so sehr quält ihn die Besorgnis, ob der Mensch nicht selbst der Fehler im System sei. Nikola hat zu viel gesehen, um an die harmlose Friedfertigkeit der Bestie Mensch zu glauben; er weiß, dass Habgier und Dominanzstreben die besten Ideen missbrauchen, wenn sie nur Gelegenheit dazu haben. Gerade auch die harsche Ablehnung seines idealistischen Konzepts von „freier Energie“ hat ihm die Augen geöffnet, wie sehr Wirtschafts- und Machtinteressen die Forschung bestimmen, ja gänzlich untergraben können. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte, aber vielleicht mit dem gewaltigsten Echo der Geschichte – einem Echo, das noch über ein Jahrhundert nachhallen soll – stellt ein brillanter Geist sich selbst diese unbehagliche Frage: „Was, wenn meine Erfindungen in die falschen Hände fallen? Wenn sie, statt der Menschheit zu dienen, in eine fatale Waffe umgewandelt werden?“

    Eine kleine verhärmte Frau mit dunklem Gesicht trippelt die Straße entlang. Von Passanten wird sie ehrerbietig gegrüßt, von Ladenbesitzern höflich angesprochen: „Frau Nietzsche“. Es ist nicht ihr Charakter, der ihr Anerkennung sichert, denn die Alte wird auch von den wohlmeinendsten Zeitgenossen als „kalt und dumm“ beschrieben, auch ist ihr sozialer Status als Pfarrerswitwe nicht der höchste und versetzt sie nicht unter die Honoratioren des Städtchens, doch ihr stummes Leiden mit einem Haushalt, der so ganz anders ist als alle anderen Haushalte ringsumher, erzeugt selbst bei den Gleichgültigsten zurückhaltende Anteilnahme und scheues Mitempfinden. Mehr noch, das Schicksal ihres berühmten Sohns, von dem niemand genau weiß, was er nun wirklich ist: Genie oder armer Irrer, hat etwas so Absonderliches, so meteroritenhaft Unwirkliches an sich, dass selbst die Spötter ungewohnt stumm bleiben und sich zurückziehen, als hätte die kalte Hand von etwas, das größer ist als sie selbst und ihr eigenes Provinzleben, gebieterisch nach ihnen gegriffen.

    Eines Tages im Jahr 1897 trägt die Schwester Elisabeth einen Schleier aus kohlefarbenem Voile vor dem Gesicht, der ihre Züge verhüllt: die Mutter ist verstorben. Drei Jahre später greift sie erneut in die Truhe mit Trauerkleidung, um auch ihrem Bruder das letzte Geleit zu geben. Aus der gepflegten Villa am Stadtrand von Weimar dringen keine Schreie mehr, endgültig lastet nun die Stille. Die Passanten grüßen die junge Frau höflich, wenn sie ihre Besorgungen ausführt, doch sie stecken ihre Köpfe zusammen und tuscheln, wenn geht.

    Es gibt nur einen einzigen Zweifel, der noch tiefer in der Seele eines ehrgeizigen Forschers wühlt als die berechtigte Furcht vor dem Mitmenschen, der seine Erfindung zu üblen Zwecken missbrauchen könnte. Es ist die Furcht, zu spät gekommen zu sein in der Geschichte. Die Furcht, etwas „entdeckt“ zu haben, was der Menschheit tatsächlich schon vor Jahrhunderten, vielleicht sogar schon vor Jahrtausenden bekannt gewesen ist. Wir wissen, dass die alten Ägypter Chirurgenstahl hatten, besser teils als unserer. Wir haben Uranlampen in den Königsgräbern gefunden. Wir sahen, dass griechische Tempel nach dem Empfang von Mittelfrequenzwellen ausgerichtet sind. Oh ewige Lächerlichkeit der Wissbegier, Eitelkeit des vermeintlich Neuen in der Forschung – sie führt immer ins Längst-Dagewesene zurück. „Was, wenn es Strahlenwaffen, ja Strahlenorganisationen längst gibt?“ Nikola seufzt ironisch. Auch in dieser Nacht wird er keine Ruhe finden.

    Man sagt, Rache sei ein Gericht, das man lieber kalt genießt. Die Mächtigen dieser Welt erledigen ihre Feinde nicht in einem Aufwallen vergeltungssüchtiger Leidenschaft, sondern mit dem Kalkül eines Mathematikers, mit der Berechnung eines Physikers. Wenn sie es tun, verwischen sie ihre Spuren, erzeugen ein Rätsel in offener Sicht, ein evidentes Geheimnis, ein Symbolgeschehen, das für den Kenner dechiffrierbar ist. Der Denker aus Sachsen hatte den Sündenfall im Paradies einst als „die klerikale Todsünde“ schlechthin beschrieben: wissen zu wollen, wissen zu wagen. An Verdecktes zu rühren, den Mechanismus der Macht teils zu entkleiden, ist nicht nur ein gefährliches Unterfangen, es ist auch eine Kampfansage, die oft den perfidesten Drang hervorruft bei denen, die es seit Generationen gewohnt sind, Stäbe über Menschen zu brechen: den Frevler lächerlich zu machen und ihn so gleich einem zweifachen Tod preiszugeben, dem sozialen und dem seelisch-körperlichen. Könnte es nicht sein, dass man wieder einmal ein „Exempel statuiert“ hat, um die Ordnung zu re-etablieren? Viele könnten ein Interesse daran gehabt haben, sich des unliebsamen Kritikers der Moderne zu entledigen; wenige jedoch hatten die Macht dazu, die wenigsten die Mittel. Im Nachhinein ist es freilich unmöglich, ohne in den Abgrund der Spekulationen zu tauchen, sicher festzustellen, ob viele, wenige oder die wenigsten tatsächlich aktiv wurden in der Entledigung eines unbequemen Denkers. Annehmbar ist es hingegen ohne jede Spekulation, dass die peinliche Degeneration des kritischen Manns, war sie natürlichen Ursprungs, an manchen Orten sehr begrüßt wurde.

    Nikola, übernächtigt, wünscht sich sehnlichst eine Pause: Gedanken, die in der Welt sind, sind nicht mehr rückholbar, Erfindungen entwickeln eine Eigendynamik, Werke bringen Verantwortung. Im März 1901, rund ein Jahr nach dem Tod des unglücklichen deutschen Philosophen, meldet er ein neues Patent an: den Apparat zum Gebrauch von Strahlungsenergie mit der US-Pat.-Nr. 685.957, der Raumenergie in elektrische Energie umwandeln soll. Der unermüdliche Dienst an der Wissenschaft macht Nikola unruhig, denn er fürchtet einen Wettlauf nicht mit der Zeit, der vierten Dimension, sondern mit den psychologischen Fehlhaltungen, die den Fortschritt auf der Erde noch immer blockiert haben: der Habgier, dem Neid, der Herrschsucht und der unendlichen Dummheit der Menschen. Atheist, der er ist, schließt er allabendlich die Augen mit einem Gedanken, der im Grund ein Gebet ist: „Urquelle aller Energie im Universum, mach, dass die Menschen reif genug werden, dich konstruktiv zu nutzen.“

    Der Schwarzgewandtete steht wie ein stolzer Rabe unter dem, der hoch und steil wie ein schillernder Kreidefelsen über ihm aufragt. „Factum est“, stellt er entschlossen fest, „Defunctus.“ Es folgen einige bewusst betonte Worte in Latein, die zwischen Schwarz und Weiß gewechselt werden, dann wendet sich der Rabe plötzlich ab und schlägt mit einem hörbaren Ruck das hohe Fenster zu, das auf den Hof ausläuft, wie ein akustischer Schlussstrich. Auch hier, im Heiligsten des Heiligsten, haben die Wände Ohren, menschliche Ohren, und das, was nun folgt, ist nicht für die Ohren Sterblicher gedacht, sondern für die Tränen der Engel. Draußen, erschrocken über den plötzlichen lauten Knall, flattert eine hektische Taube mit schmutziggrauem Gefieder in die blendende Mittagssonne, die den strahlenförmigen Platz in gleißende Helle taucht – immer höher, bis sie flirrend dem Menschenauge entrückt, irisierend wie ein lebendiger Wirbel aus Licht und Asche.

    Eine Feder trudelt in Zeitlupe auf den Boden.

    Ecce homo.

     

     

     

    1 Lou Andreas-Salomé (A.d.A.)