Das Wissen von heute ist der Irrtum von morgen – oder?

„Wir wissen heute, dass viele Sterne von Planeten umgeben sind“ sagt die Expertin. Ein gewisser Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Aber bei einigen erntet sie nur ein müdes Lächeln.

    Das Wissen von heute ist der Irrtum von morgen, sagen sie. Und daraus folgern sie, dass wir eigentlich gar nicht wissen, was die Expertin vertritt. Und sie schliessen, dass wir auch sonst nicht behaupten können, die Wahrheit zu wissen.

     

    Aber ist diese Argumentation stichhaltig? Was meint das Diktum, das Wissen von heute sei der Irrtum von morgen? Und stimmt es wirklich?

     

    Das Diktum kann man zunächst gut mit einem Beispiel plausibilisieren. Wer einmal die Ernährungsratgeber einer Reihe von Jahren durchgeht, dürfte schnell den Eindruck gewinnen, dass sich die Tipps ändern. Mal wird die basische Ernährung empfohlen; später heisst es, wir sollten keinen Zucker zu uns nehmen; dann wird als neuste Erkenntnis ausgegeben, man müsse viel Obst essen. All das passt nicht zusammen. Wer viel Obst isst, nimmt zum Beispiel viel Fruchtzucker auf. Wenn der aktuelle Wissensstand also darauf hinausläuft, dass wir viel Obst essen sollten, dann muss es ein Irrtum sein, dass wir keinen Zucker zu uns nehmen dürfen. Das frühere Wissen wurde als Irrtum erkannt.

     

    Genauer sollten wir vielleicht sagen: Vermeintliches früheres Wissen über den Zucker wird heute als irrtümlich angesehen. Denn wäre es wirklich Wissen gewesen, so wäre es wohl kaum zum Irrtum erklärt worden. Man akzeptierte es aber früher als Wissen. Und es wurde in dem Sinne als Irrtum erkannt, dass wir es heute ablehnen.

     

    Hinter dem Diktum steht in jedem Fall eine geschichtliche Erfahrung. Diese erstreckt sich selbst auf die erfolgreichsten Wissenschaften. So galt die klassische Physik, wie sie von Isaac Newton formuliert wurde, über Jahrhunderte als Inbegriff des Wissens. Dann aber begründete Albert Einstein eine neue Physik, nach der Raum, Zeit und Bewegung ganz anders miteinander zusammenhängen.

     

    Die Leute mit dem müden Lächeln gehen nun einen Schritt weiter. Sie sagen, dass sich die geschichtliche Entwicklung fortsetzt. Warum sollte es uns besser ergehen als Newton? Genauso wie viele Dinge landet auch unser heutiges Wissen auf dem Müllhaufen der Geschichte. Und das heisst dann, dass es eigentlich gar kein wahres Wissen ist. Wir können es nicht für wahr halten.

     

    Ein Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft gehört zu den Induktionsschlüssen. Und weil unser Schluss zu dem pessimistischen Ergebnis führt, dass unser vermeintliches Wissen keinen Bestand hat, können wir von einer pessimistischen Induktion sprechen. Tatsächlich wird eine solche Induktion unter etwas spezielleren Voraussetzungen in der Wissenschaftsphilosophie diskutiert. Aber was ist von ihr zu halten?

     

    Wenn wirklich alles, was wir wissen oder zu wissen glauben, als Irrtum zurückgewiesen wird, dann gilt das wohl auch für das, was die pessimistische Induktion aufzeigen soll: Dann wird also das Diktum selbst einmal als Irrtum abgelehnt. Und das hiesse dann, dass wir das Diktum selbst nicht als Wahrheit akzeptieren können. Wir können also damit rechnen, dass es doch Wissen gibt, das nicht einmal als Irrtum zurückgewiesen wird.

     

    Das ist ein erster Anfang für eine optimistische Sicht, aber nicht mehr. Denn wir haben nur gezeigt, dass einiges, was wir zu wissen glauben, nicht als Irrtum verworfen werden wird. Aber das könnte sehr wenig sein. Und solange wir nicht wissen, welche unserer Wissensinhalte einmal als Irrtum gelten werden, so heisst es in pessimistischen Kreisen oft weiter, müssen wir vorsichtig sein. Wir müssen alle unsere Ansprüche, die Wahrheit zu erkennen, fallen lassen, weil sie sich im Prinzip als falsch herausstellen können.

     

    Aber ist das wirklich so? Sehen wir uns etwa die Mathematik an. Das Wissen, das dort z.B. über die Zahlen gewonnen wird, hat sich nicht geändert. Dass 2 + 4 die 6 ergibt, wird gestern wie heute akzeptiert. Und ebenso wissen wir schon seit vielen Jahren, dass es unendliche viele Primzahlen gibt. Dafür gibt es einen mathematischen Beweis, der unwidersprochen blieb. Daher ist nicht zu erwarten, dass die unendliche Fülle von Primzahlen schon bald als Irrtum gilt.

     

    Es lohnt sich also, zwischen unterschiedlichen Sach- oder Wissensgebieten zu differenzieren. Die pessimistische Induktion, die wir betrachten, tut das nicht. Sie unterscheidet nicht zwischen mathematischem und physikalischem Wissen oder zwischen Wissenschaften wie der Biologie, der Soziologie und den Literaturwissenschaften. Es mag nun ja sein, dass in einigen Sachgebieten das vermeintliche Wissen immer schnell als Irrtum zurückgewiesen wird. Aber in anderen Wissensgebieten verhält es sich offensichtlich anders. In einigen Bereichen kommt man recht schnell auf Wissen, das sich nicht mehr verändert. In anderen Bereichen mag es vielleicht typischerweise ein paar Fehlversuche geben, bevor man zu dauerhaftem Wissen gelangt. Es wäre daher unfair, von einigen Wissensgebieten auf alle anderen zu schliessen. Nur weil es in einigen Feldern immer wieder zu Irrtum kommt, muss es nicht überall so sein.

     

    Wir können das an einer Analogie erläutern. Nehmen wir an, ich habe in Luzern eingekauft und dabei auch Mangelware bekommen. Schliesse ich daraus, dass alles, was man in Luzern einkauft, Mangelware ist bzw. sein könnte? Viel vernünftiger wäre es doch, zunächst einmal genauer zu schauen, welche meiner Produkte Mangelware sind. Vielleicht sind unter den gekauften Produkten ein paar faule Äpfel, aber die Uhren sind alle tadellos. Dann schliesse ich, dass ich in Zukunft ohne weiteres Uhren in Luzern kaufen kann, aber vielleicht keine Äpfel mehr dort erstehen sollte.

     

    Die pessimistische Induktion ist also in ihrer Allgemeinheit zu undifferenziert. Sie schert mehr und weniger erfolgreiche Suche nach der Wahrheit über einen Kamm. Sie liefert daher keinen Grund, jeden Anspruch, die Wahrheit zu wissen, mit einem müden Lächeln quittieren. Mehr Differenzierung ist angesagt.

     

    Frage an die Leserschaft

    Der Beitrag endet mit einem Appell zu mehr Differenziertheit.
    Wer müsste Ihrer Meinung nach differenzierter denken, sprechen, handeln, forschen?