Es ist wieder einer dieser Tage. Die Wetter-App berichtet: „50% Regen“. Doch was genau soll diese Auskunft – „50% Regen“ – eigentlich bedeuten? Sind die Meteorologen etwa genauso unwissend und uninformiert wie ich und haben schlicht keine Ahnung, wie das Wetter wird? „50%“, ist das ein bloßer Ausdruck ihrer subjektiven Ungewissheit? Vielleicht regnet es, vielleicht aber auch nicht – das habe ich auch schon vorher gewusst. Andererseits, wenn unsere Welt nicht deterministisch ist, nicht vorherbestimmt ist, was geschehen wird, dann haben die Meteorologen vielleicht schon alles über das morgige Wetter herausgefunden, was es herauszufinden gibt. Und das ist eben, dass die objektive Wahrscheinlichkeit für Regen 0.5 beträgt. Ist es diese Wahrscheinlichkeits-Tatsache, die ich gelernt habe? Das wäre immerhin etwas. (Was genau, ist schwer zu sagen, und hängt von der Natur objektiver Wahrscheinlichkeiten ab. Jedenfalls verstehen wir sie als „weltgegeben“ und nicht als bloße subjektive Unsicherheiten.) Oder muss ich die Vorhersage doch ganz anders interpretieren? Vielleicht bedeutet „50% Regen“, dass es ganz sicher ein bisschen regnen wird. Regen ist schließlich keine Ja/Nein-Angelegenheit. So ein typischer Nieselregen eben. Oder sind „50% Regen“ gar zu verstehen als „es regnet in der halben Stadt“, oder als „es regnet den halben Tag“?
Genug gemutmaßt – ich konsultiere Wiki: „Die Niederschlagswahrscheinlichkeit ist für einen bestimmten Ort die Wahrscheinlichkeit, dass es im Vorhersagezeitraum mindestens ein Niederschlagsereignis gibt.“ Aha, „heute 50% Regen in Zürich“ heißt also, dass die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo in Zürich für ein paar Minuten einige Tropfen fallen, 50% beträgt. Selbst bei „100% Regen in Zürich“ habe ich also eine gute Chance, meinen nachmittäglichen Bummel durchs Niederdörfli trocken zu überstehen.
Doch genug des Optimismus‘: begeben wir uns vom Regen in die Traufe. Während es für die Angabe der Regenwahrscheinlichkeit eine eindeutige Definition gibt, scheint die Lage bei alltäglicheren „50%-Aussagen“ unklarer. Wir können das etwas systematischer anschauen und am besten noch vorher beginnen: nicht bei den Aussagen, sondern bei den diesen zugrundeliegenden Meinungen oder Überzeugungen.
Wir alle haben viele Überzeugungen darüber, was ist, was war, was sein wird oder sein soll. Jeder von uns hat – so sagt man – sein eigenes „Weltbild“. Und doch: das meiste glauben wir nicht. Wir können etwas nicht glauben, indem wir es für falsch halten, also die negierte Aussage für wahr halten. Ich glaube nicht, dass es den Weihnachtsmann gibt, weil ich glaube, dass es ihn nicht gibt. Doch das meiste glauben wir schlichtweg deshalb nicht, weil wir uns einer Meinung enthalten. Wir halten es weder für wahr noch für falsch.
Nun hat die Meinungsenthaltung gemeinhin einen eher schlechten Ruf; oft wird sie mit unangemessenem Desinteresse, Denkfaulheit oder gar Unmündigkeit assoziiert. Doch – so denke ich – zu Unrecht. Oft ist Meinungsenthaltung sowohl aus praktischer und moralischer Perspektive, als auch rational angemessen. In den meisten Fällen ist es völlig richtig, dass wir uns einer Meinung enthalten, ja oft sogar gefordert. Es gibt so vieles, das uns nicht interessieren muss. Ich enthalte mich bezüglich der Frage, ob die Anzahl der Sterne unserer Galaxie gerade oder ungerade ist, und ich habe keine Meinung darüber, an welchem Wochentag der letzte Dinosaurier gestorben ist. Ja, bevor ich diese Zeilen schrieb, habe ich mir die entsprechenden Fragen noch nicht einmal gestellt. Auch können wir uns ganz bewusst dazu entscheiden, bestimmten Fragen nicht nachzugehen. Vielleicht möchte ich gar nicht wissen, was ich zu Weihnachten bekomme, und forsche deshalb gar nicht nach. In Fällen wie diesen scheint es keinen praktischen oder gar moralischen Druck zu geben, eine Meinung auszubilden.
Noch interessanter sind vielleicht die Fälle der Meinungsenthaltung, in denen ich mir eine Meinung zu einer Frage bilden möchte, also in gewissem Sinne ein praktischer Druck zur Meinungsbildung besteht. Leider ist es hier jedoch oft so, dass meine Evidenzlage kein eindeutiges Urteil erlaubt. Ich möchte nur zu gerne wissen, ob Ben auf der Weihnachtsfeier ist. Anna meinte, er wäre da, aber Anna ist keine zuverlässige Informationsquelle. Annas Aussage alleine reicht nicht, um eine gerechtfertigte Überzeugung auszubilden. Ich befrage daraufhin die Kollegen. Blöderweise sagen drei, dass er da ist, und drei, dass er woanders ist. Nun ist meine Evidenz (Annas Beitrag mal ausgeklammert) genau ausbalanciert: es spricht gleichviel dafür, wie dagegen, dass Ben mitfeiert. Die Evidenz in ihrer Gesamtheit stützt also in hinreichendem Maße weder die Überzeugung, dass Ben auf der Party ist, noch die, dass er nicht dort ist. Die einzig rationale Reaktion ist in diesem Fall die Enthaltung. Bei zu geringer oder ausgewogener Evidenz ist Meinungsenthaltung die rationale Rückzugsoption.
In Bezug auf die Ben-Frage verhalte ich mich epistemisch rational. Die Evidenzlage gibt einfach nicht mehr her. Aber zugegeben: ich befinde mich in einem gewissen Sinne in einem defizitären epistemischen Zustand. Ben ist auf der Feier oder eben nicht. Meine Überzeugungen über die Welt sind lückenhaft, und zwar an einer Stelle, an der ich gerne ein vollständigeres Bild von der Welt hätte. Letztlich basiert meine Enthaltung auf Unwissenheit, auf einem Mangel an Information. Nun ist dies aber nicht immer so ist. Es gibt auch Fälle der rationalen Enthaltung, in denen einem Subjekt alle Informationen über einen Sachverhalt zugänglich sind, es sich aber trotzdem enthalten sollte. Zwei Beispiele zur Illustration:
Cen würfelt. Er glaubt, dass der Würfel fair ist, also alle sechs Seiten die gleiche objektive Wahrscheinlichkeit haben. Somit glaubt Cen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Würfel auf einer geraden Zahl landet, 0.5 beträgt. Was ist also Cens rationale Einstellung in Bezug auf die Aussage „Der Würfel landet beim nächsten Wurf auf einer geraden Zahl“? Er sollte diese Aussage weder für wahr noch für falsch halten, sondern sich enthalten. Und wenn wir weiter annehmen, dass so ein Würfelwurf tatsächlich eine Sache der objektiven Wahrscheinlichkeit ist, dann ist die Enthaltung auch diejenige „Haltung“, die die Welt – bevor gewürfelt wird – angemessen darstellt. Sie ist mehr als eine Rückzugsposition aufgrund von fehlender Evidenz; nur die Enthaltung wird den objektiven Tatsachen in diesem Falle gerecht.
Dan hat eine heiße Schoki bestellt. Ean studiert noch unentschlossen die Getränkekarte, und fragt Dan, ob die Schoki auch wirklich schön heiß sei. Dan probiert: Es ist eine dieser Schokis, bei denen man nicht so recht weiß, ob man sie als heiß bezeichnen soll. Eine vage Angelegenheit; unsere Sprache zieht hier keine klaren Grenzen. Ob etwas korrekterweise als „heiß“ bezeichnet wird, ist nicht nur kontextabhängig (also z.B. abhängig davon, worüber man spricht), sondern auch innerhalb eines Kontextes vage: es gibt Grenzfälle, die weder klarerweise heiß noch nicht heiß sind. Und mit einer solchen grenzwertigen Schoki haben wir es hier zu tun. Selbst wenn Dan nun ein Thermometer zückt und die genaue Temperatur misst: Dan wird die Aussage „Diese Schoki ist heiß“ weder für wahr noch für falsch halten, sondern sich enthalten. Und erneut ist Dan vom Informationsstand her gesehen in keiner schlechten Lage. Die Welt, oder in diesem Falle vielleicht die Sprache, ist so beschaffen, dass die Enthaltung die korrekte epistemische Einstellung ist. Rationale Enthaltung basiert also nicht notwendig auf einem Mangel an Evidenz. Manchmal ist es nicht nur so, dass wir uns aufgrund unserer begrenzten epistemischen Perspektive enthalten müssen, sondern so, dass die Enthaltung auch die angemessene, objektiv korrekte Einstellung ist.
Die Meinungsenthaltung hat also ganz zu Unrecht einen schlechten Ruf. Oft gibt es keinen guten praktischen Grund, warum wir uns eine Meinung bilden sollten, und in vielen Fällen ist die Enthaltung die rationale, und manchmal sogar die objektiv adäquate Position. Wir müssen nicht alles untersuchen, nicht ständig Urteile fällen und Meinungen ausbilden. Kant sagte: Wage zu denken. Aber gerade wenn wir darüber nachdenken, werden wir uns häufig schlicht einer Meinung enthalten.
Frage an die Leserschaft
Was meinen Sie, gibt es geeignete Gegenbeispiele, in denen es gute praktische Gründe gibt, warum man sich unbedingt eine Meinung bilden sollte?