Diese Fragen tangieren sowohl die Universalität als auch die Normativität des Philosophiebegriffs, mit welcher sich jede Praxis interkultureller Philosophie sowie jede akademische Reflexion über sie konfrontiert sieht.
Angesichts der Ausdifferenzierung der vom Positivismus getragenen Naturwissenschaften war die intellektuelle Landschaft im Europa des 19. Jahrhunderts von der Tatsache geprägt, dass die Daseinsberechtigung der Philosophie, ihr Erkenntnisanspruch sowie ihre Methode neu ausgehandelt werden mussten. Der daraus hervorgegangene sogenannte Materialismusstreit stellte eine wirkmächtige Manifestation des Re-Definitionsprozesses der Philosophie dar, da es sich dabei um einen zentralen Schauplatz handelte, in dem neben der Stellung des Menschen auch der epistemologische Anspruch der Philosophie infrage gestellt und deren Unterordnung unter das positivistische Wissenschaftsideal gefordert wurde.
Anders als die problemorientierte Philosophiegeschichte, welche im Materialismusstreit die Fortsetzung eines antiken philosophischen Ur-Disputs sieht, rückt die historische Forschung den wissens- beziehungsweise sozialgeschichtlichen Charakter dieses Diskurses in den Vordergrund und hebt die Rolle der Konfliktparteien als soziale Akteure hervor. So verdankt sich beispielsweise die Prominenz des deutschen Materialismus im 19. Jahrhundert zugleich einer kollektiven bürgerlichen Nachfrage nach dem Zugang zu den neuen, rasant vorangehenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Denn die Protagonisten betrieben unter anderem Wissenschaftspopularisierung, und ihr philosophischer Geltungsanspruch gründete auf dem Postulat eines kausalen Zusammenhangs zwischen Materialismus und positivistischem Empirismus. Die Ablehnung dieser als untrennbar erachteten Verflechtung der Naturwissenschaften mit den spekulativen Aspekten des materialistischen Weltbildes einte dessen Kritiker, die oft selbst Naturwissenschaftler waren.
Das Dissertationsprojekt «Materialismusstreit auf Osmanisch» untersucht die wissens- und sozialgeschichtliche Ausprägung dieses Diskurses in den letzten Dekaden des Osmanischen Reiches, d. h. in einer für die institutionelle Etablierung der Philosophie konstitutiven Phase, bis zur Gründung der Republik Türkei. Dabei geht es von der Initialbeobachtung aus, dass im Osmanischen Reich die Frage nach der Existenzberechtigung der Philosophie vor dem Hintergrund des empirisch-positivistischen Wissenschaftsverständnisses mit sozialkonstitutiven Programmen einer neuen intellektuellen Klasse intrinsisch verbunden war; letztere entstand im Zuge der kontinuierlichen Bildungsreformen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts graduell und prägte später die ideologischen Entwicklungen sowohl während als auch nach der Republikgründung.
Der Philosophiebegriff selbst war in nahöstlichen Kontexten als Wissens- und Ordnungsbegriff mit einer holistischen Semantik belegt und galt der als «eigene Tradition» empfundenen Wissensordnung inhärent. Der Materialismus wurde sodann zum Kernproblem in erster Linie nicht hinsichtlich des Wissenschaftsparadigmas im engeren Sinne, sondern in Bezug auf die Totalität der tradierten Wissensordnung, welche insbesondere durch den arabischen Wissensbegriff علم (ʿilm) abgesteckt war. Folglich ging es beim Materialismusstreit im Osmanischen Kontext um nichts Geringeres als die Auseinandersetzung mit ebendieser Wissensordnung, welche notwendigerweise andere Ordnungsbegriffe sowie weitere normative Konzepte tangierte, wie beispielsweise Religion, Moral, Nation, Staat usw.
Das Projekt liest den Materialismusstreit in dessen osmanisch-türkischer Ausprägung daher als ein primär personaler und sozialkonstitutiver Diskurs. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die allgemeine Frage, welche sozialen, historischen und konzeptuellen Faktoren die Evolution der Philosophie ermöglichen respektive begünstigen. Sowohl die Frage nach der Universalität der Philosophie als auch nach der Legitimität partikulärer philosophischer Traditionen prägen bis heute die akademische Philosophie in der Türkei. Vor diesem Hintergrund praktiziert das Projekt die interkulturelle Philosophie dadurch, dass es sich in die innerakademische Frage nach der Möglichkeit, Konturen sowie Geschichte, kurzum Tradition einer «türkischen» Philosophie und deren Geschichtsschreibung einschaltet. Weiter stellt das Projekt die Maximen der interkulturellen Philosophie selbst auf den Prüfstein, indem es die Möglichkeit testet, inwiefern verallgemeinerbare theoretische Schlussfolgerungen aus einem partikulären Kontext gezogen werden können.
Bei der Argumentationsanalyse der Positionen, namentlich sowohl der reduktionistischen Argumente des materialistischen Lagers als auch derjenigen der heterogenen Materialismuskritik, will das Projekt den philosophisch-anthropologischen Prämissen auf den Grund gehen und vor dem Hintergrund aktueller Ansätze über sie reflektieren. Letzterer Punkt ist philosophiegeschichtlich insofern zentral, als die Suche nach der philosophischen Ergründung des Menschen die Ideenlandschaft der nahöstlichen Moderne durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch prägte und aus dessen semantischem Feld abgeleitete normative Begriffe wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit usw. zeitweise sogar zu politischen Kampfbegriffen avancierten. Folglich geht es auch darum, in die historische Dimension dieses Philosophems im nahöstlichen Kontext vorzudringen und nach generalisierbaren Prämissen Ausschau zu halten. Ihre Aktualität gewinnt dieses historische Projekt aus der Tatsache, dass bei modernen nahöstlichen Philosophiekonzeptionen stets die Frage mitschwingt, wie über den Menschen in simultaner Auseinandersetzung mit den Epistemen, die oft als fremd beziehungsweise hegemonial empfunden werden, nachgedacht werden kann.