Ein Artikel vom Bund

Freiheit und Solidarität

Im Kampf gegen das Virus vertraut der Bundesrat der Vernunft. Was die Philosophiegeschichte dazu sagt.

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    Regierungen weltweit stehen in diesen Tagen vor der ethischen Herausforderung, zwischen den Gütern von Freiheit und Solidarität abzuwägen: Soll die Freiheit massiv eingeschränkt und damit in der Krise die gesellschaftliche Solidarität erzwungen werden? Oder gilt es auf den vernunftbegabten Menschen zu vertrauen, der seine Freiheit nicht missbraucht, sondern im Sinne der Solidarität lebt? Die schweizerische Landesregierung hat sich für den zweiten Weg entschieden. Ob dieser Vertrauensbeweis gerechtfertigt war, werden wir erst in ein paar Tagen oder Wochen wissen.

    Jedenfalls setzt der Bundesrat ein starkes, menschenfreundliches und vertrauensvolles Zeichen, indem er darauf baut, dass Freiheit und Solidarität nicht zwingend Werte sind, die einander widersprechen. Sie gehen vielmehr – historisch seit der Französischen Revolution – Hand in Hand. Darauf zielen diese Gedanken ab: Freiheit ist ohne Solidarität nicht zu haben – zumindest dann nicht, wenn diese Freiheit gehaltvoll und sinnbeladen sein soll und nicht nur hedonistisch in der Vereinzelung gelebt werden will.

    Der Mensch ist grundsätzlich ein vernünftiges Geschöpf, das sich durch «die Autonomie seiner Freiheit» auszeichnet. Nur Unmündige, die nicht fähig, zu faul oder zu feige sind, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, bedürfen der Vormünder. So der aufklärungsoptimistische Immanuel Kant – und offenbar auch der schweizerische Bundesrat. Freiheit und die Fähigkeit, damit verantwortungsvoll umzugehen, definieren den Menschen als Menschen.

    Freiheit kann dabei unterschiedlich praktiziert werden. Isaiah Berlin hat in seinem klassischen Aufsatz «zwei Freiheitsbegriffe» herausgearbeitet. Die «negative» Freiheit bedeutet nach ihm, frei von etwas zu sein, das heisst vom Eingreifen anderer Menschen und Gruppen in das eigene Handeln. Sie ist die «Abwesenheit von Hindernissen» (Charles Taylor). Daneben stellt Berlin die «positive» Freiheit. Diese besagt, wir wollten frei zu etwas sein, nämlich dazu, «bewusste Absichten» zu verwirklichen – oder in den Worten von Taylor wollen wir «über uns selbst und die Form unseres Lebens bestimmen».

    Gleichzeitig gilt: «Freiheit ist für uns wichtig, weil wir zielorientierte Wesen sind.» Wir können Ziele haben, deren Kern in einer rein hedonistischen Selbstverwirklichung besteht. Dann definieren wir uns als bindungslose Punkte in einem sozialen Atomismus der radikalen Freiheit. Dies liefe auf die schreckliche, kaum ertragbare Erkenntnis heraus, dass wir uns vereinzelt in einem «schweigenden Universum» befinden. Oder wir erkennen, dass wir eines Bedeutungs- und Wertehorizontes bedürfen, aus dem wir unsere Identität schöpfen – das, was wir sein wollen – und uns im Rahmen unserer Freiheit entsprechende werthaltige Ziele setzen. (Charles Taylor)

    Werte für die Zielorientierung jedoch, die dazu dienen, positive Freiheit zu realisieren, können wir nicht alleine aus uns selbst gewinnen. Wir sind dazu auf die «Mitwirkung von ‹bedeutsamen Anderen› angewiesen». Dies kann ein metaphysischer, religiöser Orientierungspunkt sein. Oder – in unserem säkularen Zeitalter wohl akzeptierter – wir schaffen einen gemeinsamen Wertehorizont und definieren unsere Identität durch die Rückbindung an die Diskussion in einer menschlichen Gemeinschaft. So wiederum Charles Taylor.

    Jede solche menschliche Gemeinschaft bedarf allerdings eines Bindemittels, das sie zusammenhält. Solidarität erst macht sie zur «Solidargemeinschaft» (Ernest Renan). Für diese ist man bereit, auch persönliche Opfer zu erbringen und die Beschränkung der eigenen negativen Freiheit zwecks Zugewinn an sinnbeladener positiver Freiheit in Kauf zu nehmen. Dass dabei immer auch die Gefahr einer überbordenden «volonté générale» lauert, die das Individuum und seine Freiheit zugunsten der Gemeinschaft unterdrückt, daran hat Isaiah Berlin nachdrücklich erinnert.

    Freiheit und Solidarität müssen also grundsätzlich kein Widerspruch sein. Sie bedingen sich vielmehr gegenseitig. Sinnvolle Freiheit bedarf des Wertehorizontes des «Was-wir-sein-wollen» und somit der Gemeinschaft und ihres Bindemittels Solidarität. Menschliche Solidarität aber kann nur von vernünftigen, die Autonomie ihrer Freiheit nutzenden Personen ausgehen. Ohne Solidarität keine sinnbeladene Freiheit, ohne Freiheit keine Solidarität. Vielleicht war es das, was uns der Bundesrat mit seinem Versuch einer menschenfreundlichen, vertrauensvollen Entscheidung sagen wollte.