Entscheidungen treffen

Wie Angewandte Ethik bei komplexen Entscheidungen helfen kann

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    Wenn man uns fragen würde, womit alle Menschen unterschiedslos konfrontiert sind, dann fallen uns vermutlich viele Beispiele ein: Wir brauchen alle Luft zum Atmen, wir müssen unsere physiologischen Grundbedürfnisse befriedigen, wir streben nach einem guten Leben, auch wenn dies individuell höchst unterschiedlich ausfallen kann, wir haben Hoffnungen und hegen Befürchtungen, wir haben Ruhe nötig und so fort.

    Was uns dabei in aller Regel nicht in den Sinn kommt, ist, dass wir uns permanent entscheiden müssen; in alltäglichen Kontexten ebenso wie in besonderen Situationen. Sich entscheiden zu können, dürfen, sollen oder müssen ist immer vom Faktum der Ungewissheit begleitet, da zum Entscheidungszeitpunkt nicht unmittelbar erkennbar ist, ob die gewählte Handlungsoption auch zu dem gewünschten Ergebnis führt. Folglich kann sich eine Entscheidung als richtig oder falsch erweisen, die Wahl einer Option kann sich als klug oder unklug herausstellen. Doch sind Entscheidungen nicht nur auf diesen rationalen Sinn begrenzt. Sie können auch moralisch relevant sein und die Frage aufwerfen, ob und inwiefern sich Entscheidungen ethisch legitimieren lassen.

    Grösstenteils ist das alltägliche und mehrfache Entscheiden am Tag mit keinen besonderen Herausforderungen verbunden, auch wenn uns diese Entscheidungen deshalb nicht leichtfallen müssen. Zumeist haben wir im Laufe unseres Lebens für solche Entscheidungsarten die unterschiedlichsten Routinen entwickelt, an denen wir unsere Entscheidungen ausrichten. Doch mitunter stehen wir auch Entscheidungen gegenüber, die nicht ohne weiteres in eine Routine überführt werden können – oder sollten: Sei es, weil der Gegenstand der Entscheidung besondere Sensibilität verlangt; sei es, weil wir unsere Entscheidung vor uns selbst, gegenüber anderen oder vor einer Instanz legitimieren und verantworten müssen; oder sei es, dass wir der Herausforderung gegenüberstehen, mit anderen (shared decision-making) oder für sie (surrogate decision-making) zu entscheiden.

    Gerade Entscheidungen, die für andere Menschen getroffen oder z.B. im behördlichen Kontext gegen ihren Willen gefällt werden (müssen), sind von erheblicher Brisanz für die Angewandte Ethik. Etwa, wenn in die Freiheitsrechte einer Person eingegriffen wird und ihre Selbstbestimmungsfähigkeit zur Disposition steht, zugleich aber ein Ermessensspielraum für das behördliche Handeln besteht (vgl. hierzu Lindenau/Meier Kressig 2019). Woran kann sich die Entscheidungsfindung in solchen Situationen orientieren? Dabei nur auf unsere jeweils blosse Meinung zu vertrauen verbietet sich, da diese nicht frei von Willkür und beliebig ist. Auch heuristische Verfahren, also unsere Faustregeln, die wir aufgrund unserer Erfahrung gewonnen haben, werden allein nicht ausreichen, da sie auf einer verzerrten Wahrnehmung beruhen können. Ebenso kommt eine ausschliessliche Orientierung an den normativen Theorien der Ethik nicht in Betracht, da ihre Grundsätze in der Regel zu abstrakt sind, um sie auf spezifische Einzelfälle und konkrete Situationen zu übertragen.

    Was uns weiterhelfen kann, ist eine philosophische Methode, die von John Rawls in die Diskussion eingebracht wurde: das Überlegungsgleichgewicht (vgl. Rawls 1979). Auch wenn von Rawls für einen anderen Zweck entwickelt, besitzt das Grundgerüst seiner Methode unmittelbar praktische Relevanz, um herauszufinden, wie ethisch legitimiert werden kann, was in einer konkreten Situation getan werden sollte. Dazu werden die Grundsätze ethischer Theorien mit unseren alltäglichen Moralauffassungen solange abgewogen, bis sie sich in einem Gleichgewicht befinden, also miteinander übereinstimmen. Mit diesem «Hin-und-her-Gehen» vermeidet Rawls zum einen die zu grosse Abstraktion ethischer Theorien; zum anderen nimmt er uns als kompetente Moralbeurteiler, unsere Erfahrungen und Intuitionen, ernst. Die über viele Stufen erfolgte Weiterentwicklung dieser philosophische Methode hat schliesslich zum Modell des weiten Überlegungsgleichgewichts geführt, in dem neben unseren alltäglichen Moralauffassungen und ethischen Theorien auch nicht-moralische Kontextbedingungen berücksichtigt und miteinander bis zum Zustand der Kohärenz abgewogen werden (vgl. Daniels 1996). Denn eine Nicht-Berücksichtigung der nicht-moralischen Kontextbedingungen könnte die Reflexion konkreter Entscheidungs- und Handlungsoptionen erheblich beeinträchtigen.

    Auch mit diesem methodischen Ansatz wird sich keine absolute Gewissheit über die «richtige» Entscheidung oder die «kluge» Wahl herstellen lassen. Trotzdem kann sie uns helfen, unsere Entscheide in solchen Entscheidungs- und Handlungssituationen abzusichern, die sich einer einfachen Verortungslogik entziehen.


    Literatur

    Daniels, Norman. 1996. Justice and Justification. Reflective Equilibrium in Theory and Practice. Cambridge: Cambridge University Press.

    Lindenau, Mathias/Meier Kressig, Marcel. 2019. «Wir gehen hin und her». Versuch einer Operationalisierung des Überlegungsgleichgewichts am Beispiel der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in der Schweiz». in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 6 (1), S. 117–144, https://doi.org/10.22613/zfpp/6.1.5.

    Rawls, John. 1979. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.