Unvereinbare Ziele, Föderalismus und sozialer Frieden

Individualismus versus Kollektivismus. Für und gegen Kommunismus. Ein Gegensatz, der bleiben wird. Was kann getan werden?

·

    In meinem bisher nicht gehaltenen Collegekurs "Die Versuchung des Sozialismus" (eigentlich The Seduction of Socialism) erkläre ich, dass die westliche Welt nach Darwin, Nietzsche, Marx, Lenin, Stalin, Mao und den vielen Kriegen im 20. Jahrhundert von zwei fundamentalen Denkweisen beherrscht wird. Wo andere das Wort "Ideologie" benutzen würden, habe ich mich entschieden, von "Hintergrundreligion" (background religion) zu sprechen, analog zum Begriff der Hintergrundstrahlung (background radiation) in der Astronomie. Das ist genauer so zu verstehen: Nicht von anerkannten und etablierten Glaubensrichtungen ist hier die Rede (ebensowenig von Kulten und Verschwörungen), sondern von einer Einstellung, die ich vorläufig als "gefühlsmässiger und ideologischer Kollektivismus" bezeichnen werde. 

    Es gibt eine passende Bezeichnung, die ich von einer amerikanischen Juristin und Journalistin entlehnen und als Alternative zu meinem Ausdruck "Hintergrundreligion" anbieten kann: "Ideologie als höhere Berufung" (Megyn Kelly). Es ist also möglich, meine Bezeichnungen mit anderen auszutauschen, ohne den Kern der Sache zu berühren (solange es nur um die Wortwahl geht). Entsprechend wäre unter "Vordergrundreligion" eine Glaubenshaltung zu verstehen, die aktiv gepflegt wird (individuell oder kollektiv, mit oder ohne Rituale), und ungeniert gezeigt werden kann, als Zeichen einer sozialen Zugehörigkeit. Das wäre theoretisch das Gegenteil von "Hintergrundreligion", nur scheint ein solches Wort keinen Nutzen zu bringen. Aber es darf auf dem Papier stehen bleiben. Nun denn: "Hintergrundreligion" als passives, konfuses Pendant zu einer aktiven, gut organisierten Religion, um es soziologisch auf den Punkt zu bringen. 

    Wenn wir uns vage aber doch bewusst mit einer Ideologie, mit einer Weltanschauung oder einer Hintergrundreligion identifizieren, bedeutet das nicht, dass wir völlig unflexibel und dogmatisch denken und agieren. Das bedeutet, dass wir in unserem Leben einer Tendenz nachgeben, die in einem alltäglichen emotionalen Normalzustand ihre relativ stabile Grundlage findet.

    Die beiden polaren Hintergrundreligionen (oder wirkungsmächtigen Denktendenzen) in der westlichen Kultur seit, sagen wir, der Mitte des 20. Jahrhundets, heissen "Christentum" und "Kommunismus", oder allgemeiner "Individualismus" und "Kollektivismus" (mit oder ohne Marx und Engels). Es ist meine - hoffentlich nicht religiöse Überzeugung - dass die Lehren des Sozialismus / Kommunismus in der Tat die letzte Weltreligion repräsentieren, die als solche äusserst erfolgreich war und immer noch ist. Deshalb sage ich in meinem Kurs auf Anfrage, dass es im Interesse aller Beteiligten wäre, wenn "pro-kommunistische Gruppen" sich als Religion oder als Kirche organisieren könnten, etwas nach dem Vorbild von Scientology. Mit der Möglichkeit, eine ganz andere Meinung zu vertreten, sage ich doch mit subjektiver Bestimmtheit, dass die beiden Hintergrundstrahlungen "Christentum" und "Kommunismus" miteinander völlig inkompatibel sind. Sie sind es zunächst in religiöser Beziehung, denn keine christliche  Institution wird jemals behaupten, dass es keinen Gott gebe, dass Christus ein Mythus sei, dass Religion ein "Betrug am Volk" sei (oder eine grosse Illusion), und dass Kirchen nichts anderes als Machtapparate seien, oder Erweiterungen von Machtapparaten anderer Art. Absolut inkompatibel. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ein Kompromiss ist ausgeschlossen. Keine Neuinterpretation des Neuen Testaments wird das vertuschen können. 

    Etwas tiefer im Detail sind auch die Vorstellungen von einem "Erlöser" unvereinbar - eine Diskussion, die zum Thema Individualismus versus Kollektivismus führt, wiederum verwandt mit dem Dilemma Freiheit versus Sicherheit. Im gefühlsmässigen und im ideologischen Kollektivismus wird die Vorstellung wachgehalten, dass "die Gesellschaft" insgesamt so etwas wie "Gerechtigkeit" suche, was  man mit  "Gleichheit" (auch mit vollkommener "Gutheit") gleichzusetzen habe, und zwar nicht nur formal "vor dem Gesetz", sondern durchaus real und "in der Wirklichkeit". Alles was nicht "gleich" ist, ist automatisch "ungerecht", was historisch gesehen ein Unsinn ist, wenn wir uns die diversen Parteiaristokratien sowohl in kapitalistischen als auch in kommunistischen Hierarchien vor Augen führen. Das historische Vehikel der Erlösung sind nicht so sehr "grosse Führer" (wie sich Fidel Castro im Superlativ nennen liess), sondern militante Kollektive - eine erleuchtete Elite mit hoher Berufung, die mutige Avantgarde, die nichts scheut (vor nichts zurückschreckt). Von hier aus läuft der revolutionäre Zug immer auf der gleichen Schiene: Volk = politische Partei | politische Partei = Staat | Staat = Freiheit und Gerechtigkeit. Das klingt in gewissen Ohren extrem verführerisch. Für mich liest sich das eher wie eine Stelle aus George Orwells Roman 1984.

    Alternative zu meinem Ansatz. Es gibt grundsätzlich zwei Zugänge zum Thema: entweder braucht es eine Änderung in der Verfassung und im Staatsaufbau, oder nicht. Es würde demnach genügen, das Bestehende zu erhalten und besser umzusetzen. Die ideologische Spaltung in Links und Rechts wäre in dieser Sicht eine blosse Erscheinung, oder ein "Anachronismus", wie gerne aber falsch gesagt wird. Dagegen halte ich, dass die Dichotomie der beiden Hintergrundreligionen "Christentum" und "Kommunismus" tief in der menschlichen Psyche verankert ist (zumindest im Westen) und bis auf weiteres wirksam bleiben wird, wenn sie auch in einer komplexen und chaotischen Gesellschaft viele Formen annehmen kann (besagte Dichotomie). Zur Veränderung des Staatsstruktur käme uns zunächst das Zweiparteiensystem in vielen Nationen in den Sinn, denn es geht hier auch um die Spaltung der Bürgerschaft in Konservative und Progressive (besonders beidseits des Atlantiks). Es ist durchaus möglich, dass eine Swiss-Style Zauberformel, welche mehr als zwei dominante Parteien berücksichtigt, das hier angesprochene Problem (Konfliktpotenzial) weitgehend aus dem Weg räumt. Das kann sein, warum nicht, aber ich glaube das nicht. Es gibt zwischen den beiden Hintergrundreligionen praktisch keine Überschneidungen. Atheisten und Vertreter einer "moralistischen Zensurkultur" haben keinen Spielraum (jedes Zugeständnis wäre Verrat), und Christen müssten sich verbiegen und behaupten, Jesus und seine Jünger seien in Wirklichkeit eine "nomadische kommunistische Kommune" gewesen, was eine dreiste Umschreibung der Geschichte bedeutet.

    Nun geht es mir nicht darum, eine Änderung der Verfassung in der Schweiz, in den USA oder in einer anderen westlichen Nation vorzuschlagen oder gar zu verlangen. Es geht mir hier nur um die prinzipielle Möglichkeit - vielleicht sogar Notwendigkeit -, einen ideologischen Über-Föderalismus "zur Wahrung des sozialen Friedens" zu diskutieren, mit besonderer Berücksichtigung der Polarisierung in der EU und in den Vereinigten Staaten. Es scheint mir, dass auf Dauer ein Kompromiss zwischen den "pro" und "anti" Positionen in bezug auf Staat, Familie, Privatbesitz, Redefreiheit (und andere Bürgerrechte), Wirtschaft, Umwelt, Aussenpolitik, Migration, Sicherheit, Militär und anderen heissen Themen nicht möglich ist. Gleichzeitig sollen die Bürgerrechte bezüglich Religion und Weltanschauung gewahrt werden. Bürger mit dem Streifen der Hoffnung namens "Christentum" am Horizont ihres Bewusstseins haben nicht das Recht, Bürger mit dem Streifen "Kommunismus" am Horizont ihrer Hoffnungen einzuschränken, und umgekehrt; es gilt für alle religiöse Freiheit, sofern kein Leben und Besitz gefährdet wird (solange das Gesetz nicht gebrochen wird). Die Wendung "erweiterter Föderalismus", welche ich bevorzuge, ist suboptimal, zugegeben, aber die Anspielung auf die Schweiz, auf Kanada und die USA ist durchaus willkommen. Was ich damit sagen will ist eine faktische Trennung in zwei oder mehr "ideologische Provinzen" (stets auf freiwilliger Basis und ohne Verfolgung Andersdenkender) unter Beibehaltung der nationalen Einheit, weil damit gewisse allgemeine Interessen gewahrt werden (Sicherheit und Verteidigung). Von hier ausgehend sind zwei Standpunkte möglich: 

     

    (+) Wenn wir ein Staatsgebilde im Rahmen eines erweiterten Föderalismus teilen, werden schwere soziale Konflikte aufgrund von Weltanschauungen und politischer Propaganda vermieden.

     

    (-) Wenn wir ein Staatsgebilde im Rahmen eines erweiterten Föderalismus teilen, werden Konflikte nicht vermieden, sondern möglicherweise verschärft.  

     

    Da die zweite Möglichkeit ein sehr ernster Einwand ist (deshalb negatives Zeichen), müsste in jedem Fall sichergestellt werden, dass die Verteidigung eines Landes (mit oder ohne offensive Kapazitäten) verhältnismässig 50:50 gehalten wird, genauso wie die Beteiligung an den drei Gewalten in jeder modernen Republik: Legislative, Exekutive und Judikative. Zudem müssten militante Gruppen und paramilitärische Organsationen strikte verboten bleiben. Es geht nicht an, dass eine grosse Partei (eine ideologische Richtung) im Alleingang die Staatsorganisation verändern oder militärisch gefährden kann (oder über anarchistischen Terror in den Strassen). Ein Schwachpunkt im sonst vorbildlichen amerikanischen Staatsaufbau ist, dass eine der zwei traditionellen Parteien alleine (also gegen den mehrheitlichen Widerstand der Opposition und der Population) die Verfassung ändern kann, was in der heutigen ideologischen Zeit ein untragbares Risiko ist. In der Schweiz bedarf es dazu eines Volksentscheides (obligatorisches Referendum). Das ist das Beste, was wir als Modellstaat zu diesem Zeitpunkt als Kontrollmechanismus anzubieten haben. Vielleicht gibt es einen besseren Schutzmechanismus, aber er ist uns Schweizern noch nicht bekannt. Wenn so eine Anregung zum Schutze des Grundgesetzes aus dem Ausland kommen würde, wäre das natürlich auch sehr willkommen. Das grundlegende Problem eines jeden Gemeinwesens ist, dass der Gesetzgeber vom Verständnis, vom Interesse und vom guten Willen der Mitglieder eines Gemeinwesens ausgeht. Böser Willen ist als Grundhaltung (default attitude) nicht vorgesehen. Würden wir heute eine Staatsform für ein westliches Land neu diskutieren und entwerfen, wäre es geboten, als Grenzsituationen hypothetisch worst case scenarios anzunehmen, und zu fragen, wie auf kluge und ethische Art verhindert werden kann, dass eine fanatisierte Minderheit sich der staatlichen Institutionen bemächtigt und mit Hilfe des privaten Sektors (zum Beispiel Medienmonopole) eine Diktatur aufzieht. So haben die Gründerväter der Vereingten Staaten nicht gedacht, weil sie Kinder der Aufklärung waren. Wir sind das mitnichten, vor allem aber sind wir Zeugen von unglaublichen Kriegen, Diktaturen und organisierter Kriminalität, wenigstens jene, die im vorigen Jahrhundert begonnen haben, sich der Welt zuzuwenden.

    Fazit. Kommunismus als weltumspannendes politisches Programm, als Ersatzreligion (mit einer Elite als Erlöser der Massen), als gesichtsloser Geschäftspartner für globale Unternehmen ist aus Sicht bescheidener, rechtschaffener, loyaler Bürgerinnen und Bürger völlig unakzeptabel. Kommunismus ist ein grosses Narrativ, das mit grossen Lügen und grossen Opfern einhergeht. Die Unterdrückung der Intelligenz ist systemimmanent. Da gibt es nichts zu relativieren. Sogar ein "guter Diktator" müsste zur Wahrung seiner Macht die Kirchen drangsalieren und die Opposition nach Sibiren schicken. Die frontale Konfrontation mit kollektivistischen Vorstellungen im neuen Gewand schliesst sich unmittelbar an die kritischen Argumente der kanadischen Professoren Stephen Hicks und Jordan Peterson an (Philosophie und Psychologie), denen ich viel verdanke. Es ist hier nicht nötig, speziell darauf einzugehen. Interessierte Leser können sich selbst auf Youtube umsehen und ihren Horizont erweitern. Die Strategie ist allgemein, Neomarxismus in den Medien und in der Bildung zu erkennen und dessen Kennzeichen zu isolieren (Katalog von Meinungen und Eigenschaften der Meinungsmacher und -träger). Als weiterer Schritt in die gleiche ideologiekritische Richtung schlage ich vor, "Kommunismus" im weiteren Sinne als Hintergrundreligion für viele der so genannten "Progressiven", "Alternativen" und "Radikalen" direkt anzugehen und auch hier typische Aussagen und Attitüden zu katalogisieren und in historischer Perspektive zu analysieren. Nicht alles, was nach Aufklärung klingt, ist Aufklärung. Gutmenschen sind nicht einfach nur gut, weil sie sich so geben. Zum Beschluss biete ich interessierten Lesern drei Links an, die diesem Text einen fruchbaren Boden liefern, wenn ich mich auch nicht direkt darauf beziehen möchte:

    pro Schweiz:

    www.bernerzeitung.ch/kultur/die-usa-als-vorbild-der-modernen-schweiz/story/23746369

      

    contra Zlavoj Zizek: 

    www.rt.com/op-ed/482780-coronavirus-communism-jungle-law-choice 

     

    Amerika - ein Name, zwei Nationen (2011):

    www.thestreet.com/opinion/why-not-split-america-into-two-countries-11233874