Was zunächst paradox klingt, ist dennoch eine denkbare (oder gar implizite?) Entwicklungstendenz normativ geprägter liberaler Demokratien. Zwar ist die von anderen Staatsorganen unabhängige Rechtsprechung Ausdruck dessen, was wir unter Demokratie verstehen, aber nur so lange, wie sie nicht heillos mit diesen vernetzt ist. Diese Bedingung ist in einer Zeit in der "alles mit allem verbunden" ist bei weitem nicht mehr erfüllt. Wer die Nachrichten regelmäßig verfolgt, dem wird es nicht entgangen sein, daß es kaum noch parlamentarische Beschlüsse gibt, die nicht Richtern zur letztendlichen Entscheidung vorgelegt werden müssen. Egal ob es um das Tragen von Kopftüchern oder das Zeigen des Kreuzes in öffentlichen Gebäuden geht, um die Rechtmäßigkeit von Corona-bedingten Ausgangsbeschränkungen, Emissionsgrenzwerten und Fahrverboten, Frauenquoten, der europäischen Bankenunion, der deutschen Autobahnmaut oder ganz aktuell, der Rundfunkgebühren. Immer häufiger sind Richter die final entscheidende Instanz. Ihre Aufgabe besteht dabei aber immer weniger in der Feststellung von Recht bzw. Unrecht (diese Begriffe haben in komplexen Rechtszusammenhängen keine Bedeutung) sondern in der Abwägung von konkurrierenden Rechtsgütern. D.h. unsere positiven Rechtsgüter (Werte) sind bedingte Güter - situationsabhängig und verhandelbar. Das kann nicht anders sein, denn sie sind das Resultat logisch gerechtfertigter Ansprüche und somit prinzipiell nicht widerspruchsfrei. Entsprechend sind Abwägungen von Rechtsgütern keine eigentlichen Rechtsentscheidungen, sondern in ihren Voraussetzungen, Begründungen und Auflagen höchst komplexe von Graustufen und multiplen Alternativen durchwirkte Konstrukte. Diese Komplexität findet in den resultierenden Handlungsanweisungen staatlicher Verwaltungseinheiten ihren Niederschlag. Gerichte werden so ungewollt zu Kultur- und Ethikkammern, in denen öffentliche, private und selbst intime Verhaltensweisen reguliert werden, mit der Folge, dass Leben ohne Rechtsbeistand, Ethikberatung und Umweltassistenz zu einem risikoreichen Unterfangen geworden ist. Recht und Unrecht degenerieren auf diese Weise zu profanem 'erlaubt' und 'verboten', wobei 'verboten' tendenziell alles ist, was nicht explizit 'erlaubt' ist, denn Gesetze sind längst zu Wanderbaustellen geworden und werden fallaktuell "nachgeschärft". Das aber ist genau das Kernmerkmal jeder Diktatur, nämlich die Beherrschung des Geschehens gesellschaftlichen Lebens. Sie wird notwendig, weil die zugrunde liegenden gesetzlichen Verhältnisse Ausdruck eines Wollens und daher dysfunktional sind. Im Gegensatz zur Diktatur steht in der Demokratie dem Verbot, als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft, ein unendliches und daher explizit (positiv) nicht verfügbares Potential von 'Erlaubnisssen' gegenüber. Genau hierin, denke ich, besteht die Freiheit nicht nur der offenen Gesellschaft, sondern des Menschen ganz allgemein.
Die oft beklagte Zunahme der Komplexität des Lebens ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis exzessiv-normativer Methoden in Wissenschaft und Gesetzgebung, die auf die Deflationierung von Wahrheitsansprüchen (Rorty, Habermas, u.a.) zurückgehen. Interdisziplinarität und Multilateralisms sind ihre wesentlichen Ausprägungen. Dabei verschwindet der Diskussionsgegenstand hinter der Art und Weise wie eine Vereinigung konträrer Positionen erzielt werden soll, was eine (gut bezahlte) Armee von Verhandlern auf den Plan gerufen hat, die per Sprachvergewaltigung Xe und Ypsilons in Gleichklang bringen. Formal muss dabei keine Partei auf wesentliche Ansprüche verzichten, jedoch mit der Konsequenz, dass die Vereinbarung weder Fisch noch Fleisch oder Gemüse ist, d.h. als Algorithmus weit an jeder Lebenswirklichkeit vorbei geht. So gelingt es Minderheiten, Subkulturen und Communities ihren Status, ihre Ansprüche und Expressionen sowie ihre Interaktion mit anderen Communities gesetzlich zu zementieren - und das mit ständig steigendem Erfolg. Damit ist aber die Kollision von Rechtsgütern vorprogrammiert, denn positives (algorithmisches) Recht kann aus prinzipiellen Gründen nicht widerspruchsfrei sein. An dieser Stelle Gödel zu bemühen, hieße mit Kanonen auf Spatzen zu schießen (die Logik hat keine Anwendungsdomäne außer sich selbst). Diese unvermeidliche Widersprüchlichkeit zwingt Richter zunehmend in die Rolle von gestalterischen Mediatoren und Kulturmachern. Als Autoren legaler Gesellschaftsverhältnisse und -konditionen liefern sie zwar noch kein 'Drehbuch des Lebens', zwingen der Legislative einerseits und den Bürgern anderseits aber 'Charaktere' und 'Drehorte' auf, die für beide nur begrenzten Gestaltungsspielraum übrig lassen. Und je tiefer normatives Recht in die Gesellschaft eindringt, desto mehr werden die richterlichen Entscheidungen auch Handlungsanweisungen sein müssen und so über die Verhältnisse hinaus das gesellschaftliche Geschehen regulieren. Es steht mittelfristig zu erwarten, dass die Judikative auf Grund der steigenden rechtlichen Komplexität jeder Gesetzgebung die Legislative marginalisieren und schließlich zum Verschwinden bringen wird. Es besteht allerdings kein Grund die Legislative zu bedauern. Erst ihr Vordringen in alle Gesellschafts- und Lebensbereiche hat die rechtliche Komplexität erzeugt, die ihr heute zunehmend die Hände bindet.
Verheerende Wirkung hat der Verlust einer anschaulich nachvollziehbaren Rechtsauffassung beim Bürger, denn seine vernunft=sprachbasierte Rechtsmeinung ist im Zweifelsfall nicht kompatibel mit der höchstrichterlichen, die eine logisch-konstruktivistische ist. Dem Verlust des Vertrauensverhältnisses zwischen Staat und Bürger folgt zwangsläufig dessen Überwachung, Gängelung und schließlich Unterdrückung. Schon heute wird jede Auflehnung gegen den normativen Rechtsgedanken als rückwärts-gewandt und toxisch diffamiert und damit wenigstens implizit in die rechte Ecke gerückt. Das Paradox einer liberal-demokratisch legitimierten Gleichschaltung der Gesellschaft gewinnt nicht nur im Licht der Digitalisierung ein nicht von der Hand zu weisendes sinistres Potential.