Dialektik minus Illusion gleich Metaphysik?

Eine Miniatur

    Die Dialektik gehört zu den abenteuerlichsten Gegenständen der Philosophie. Als Lehre von der Überwindung von Oppositionen und Gegensätzen durch Synthese scheint sie einerseits weder begreifbar noch anwendbar zu sein, andererseits aber immer wieder eine große Faszination auf Philosophen auszuüben. Schon Heraklit raufte sich die Haare angesichts der Begriffsstutzigkeit seiner Zeitgenossen (Frag. 51):

    Sie verstehen nicht wie das Trennende vereint; es ist eine Harmonie von Gegensätzen, wie die von Bogen und Lyra.

    Während der erste Halbsatz das Charakteristikum als auch die Lösung des 'Problems' Dialektik erschöpfend beschreibt, ist der zweite eher geeignet das schon gewonnene Verständnis wieder in Frage zu stellen. Vielleicht fehlten Heraklit aber, genau wie Aristoteles für das Problem der Bewegung, einfach die Begriffe um sich konsistent und verständlich auszudrücken. Auch das vermutlich ältere neti-neti Denkmuster der indischen Philosophie und die noch früher in China entwickelte Yin-Yang Dialektik sind jenseits emotionaler oder mystischer Vorstellungen unzugänglich geblieben. In der europäischen Philosophie bezeichnet der Begriff Dialektik denn auch eine Denk- oder Erkenntnisweise, die mit der Logik des Aristoteles unvereinbar ist und daher als rational nicht fassbar und widersprüchlich gilt. Bei Platon glaubt man die Dialektik in der Art der Gesprächsführung seiner frühen Dialoge zu erkennen, in denen verschiedenste (Hypo)Thesen von allen Seiten beleuchtet und von 'Sokrates' mittels der Methode des Elenchos (Prüfung) zurückgewiesen werden. Dem historischen Sokrates wird allerdings nachgesagt, es dabei belassen zu haben seine Gesprächspartner durch geschicktes Fragen in heillose Zweifel über ihre eigenen Meinungen (Thesen) gestürzt zu haben, was der Grundidee des neti-neti (weder-dies-noch-das), nämlich der Absage an die Beschreibbarkeit der Realität anders als durch Negation, nicht widerspricht. Yin und Yang hingegen teilen sich in symmetrischer Weise einen Kreis, d.h. ein Universum. Ohne Yin bzw. Yang ist dieses Universum nicht vollständig oder sogar nicht existent. Verglichen mit neti-neti scheint Yin-Yang dessen totale Negation zu sein, nämlich dies-und-das. Ursprünglich den Nord- und Südhang eines Tales bezeichnend (kein Nordhang ohne Südhang!) gewinnt es aber schnell die Bedeutung von manchmal-dies-manchmal-das und erfährt damit eine Verschiebung von einer Ontologie zu einer Schaukel-Dynamik: manchmal-gut-manchmal-böse; manchmal-heiß-manchmal-kalt. Genau wie später im modernen Europa versucht die chinesische Philosophie der Unmöglichkeit der Einheit der adjektivischen Gegensätze durch zeitliche Spreizung (Temporalisierung) zu entgehen. Nur die indischen Denker, soweit ich sehen kann, verweigern sich dauerhaft der Logifizierung und Temporalisierung indem sie der sich ändernden Welt als maya nur eine substanzlose Scheinexistenz zugestehen. Erleuchtung bedeutet demnach, dies zu erkennen. Die Auffassung, daß Veränderung und Zeit Illusionen sind, wird in der europäischen Philosophie einzig von den Eleaten, insbesondere von Parmenides vertreten. Mit seinem Schüler Zeno bricht diese Denkrichtung aber ab. Nur Nikolaus von Kues (Cusanus) kommt im 15. Jahrhundert in einem neuen Anlauf in Richtung einer widerspruchsfreien 'Dialektik', die er coincidentia oppositorum nennt, zu dem Schluss, daß die Zeit eine Illusion ist: Wahre Zeit ist zeitlose Zeit. Was er vermutlich damit sagen will ist, daß beispielsweise der Satz: Morgen früh geht die Sonne auf, kein zukünftiges Ereignis, sondern ein zeit-loses Phänomen, d.h. einen 'Wissenskörper' beschreibt.

    Kant lokalisiert den Fehler der Dialektik im Versuch ohne Erfahrung auszukommen. Das gilt aber für jede andere Art vernünftelnden Denkens in gleicher Weise. So ist z.B. die heutige Krise der theoretischen Physik durch ihr logisch-isoliertes System bedingt, in dem die Erfahrung, als etwas jeder Erkenntnis vorausgehendes, teils methodisch, teils aus praktischen Gründen ausgeschlossen ist. Weiterhin ist Kants Auffassung der Dialektik durch die wenigstens unterschwellige Annahme bestimmt, daß sie entweder der Logik unterworfen oder unbrauchbar ist. Entsprechend tradiert er die uralte Vorstellung, daß die Dialektik auf Gegensätzen, Oppositionen und damit auf Widersprüchen beruht. Er glaubt das mit seinen Antinomien, z.B. die Welt ist endlich (These); die Welt ist unendlich (Antithese), bewiesen zu haben und hält die Dialektik daher für ein gedankliches (logisches) Missgeschick. Die Idee, daß sie nicht auf polaren (hell-dunkel) bzw. logischen (A, ¬A) Gegensätzen, sondern auf verbindender Absoluter Andersheit beruhen könnte, kommt ihm als Logiker nicht in den Sinn, obwohl er zu den Wenigen seiner Zeit gehörte, die die unerhörte (a priori) Andersheit der Newtonschen Gesetze im Rahmen damaliger Physik voll durchschauten.

    Hegel - nicht zuletzt in seiner Affinität zu Spinoza - war der erste Denker, der den Schlüssel zur Dialektik in Händen hielt. Ihm war völlig klar, daß jede herkömmliche Logik an ihren Voraussetzungen scheitern muss. In Wissenschaft der Logik beklagt er die a posteriori Natur konventioneller Logik, d.h. die Schemata, die sie nachträglich über die schon längst vorhandenen, sich gegenseitig begrenzenden Materialien des Wissens legt. Wenn die Logik sich selbst als universell und auf alles anwendbar feiert, beklagt Hegel genau diese Leere ihrer Formen. Obwohl er hiermit den Grund, warum keine konventionelle Logik voraussetzungslos sein kann, präzise erfasst, verfällt er in der Folge in ein Denkmuster, welches vermutlich auf Schelling zurückgeht, nämlich das der Polarität, was ihm den Schlüssel gleich wieder aus der Hand nimmt. Denn Polarität ist das Denkmuster des degenerierten manchmal-dies-manchmal-das Yin-Yang, der zeitlichen Spreizung gleichzeitig unvereinbarer Realisierungen einer Eigenschaft in einem Objekt. Zwar geht Hegel hier einen Schritt weiter indem er in der Dialektik neben dem Gegensatz auch ein verbindendes Element erkennt, diesen Widerspruch aber eher auf schwache Begrifflichkeiten zurückführt, die es im dialektischen Prozess zu überwinden gilt. Anders als Platon sieht er die Dialektik nicht im Widerstreit von Personen getragenen Meinungen, sondern als der Sache innewohnend. Genau hier gerät sein Denkgebäude aus den Fugen: so spricht er von Polarität wenn er die bloß periphere Eigenschaft der Komplementarität, ungleiche Teile hervorzubringen, meint. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß selbst heute noch (z.B. im deutschen Wikipediaeintrag) nicht sauber zwischen Polarität und Komplementarität unterschieden wird. Griechisch pólos bezeichnet zunächst den zur Erdachse parallelen, schattenwerfenden Stab einer Sonnenuhr und später die Drehachse der Erde selbst. Den Enden dieses Stabs (dieser Achse) kommt dabei keine besondere Bedeutung zu, primär ist seine Eigenschaft Achse zu sein. Obwohl wir keine gängigen Begriffe für andere als die Endpunkte der Erdachse (Nord- bzw. Südpol) besitzen, hat der Erdmittelpunkt offensichtlich die Polarität 'null' oder 'neutral'. Und ein Punkt eintausend Meter unter dem Nordpol ist offensichtlich weniger polar als der Nordpol selbst. Die Erdpole sind daher keine Gegensätze, sondern Extreme auf einer kohärenten Skala. Hegel täuscht sich darin, daß wir Pole setzen können, wenn wir nur Achsen bestimmen können, denn, kennten wir z.B. nur hell und dunkel (ohne Zwischenwerte), könnten wir nicht wissen, daß sie miteinander verbunden sind. Die Adjektive sind polar, weil es zwischen den Extremen eine unendliche Anzahl von Realisationen, eine (Werte)Achse gibt. Hegel redet also weder von kontinuierlich-polaren Extremen noch von diskret-komplementären Gegensätzen. Letztere sind zwar ohne Zwischenwerte aber nicht durch ihren Widerspruch, sondern durch das Ganze definiert, welches komplementäre Teile bilden. Beispiele sind Mann und Frau, Teilchen und Welle oder Nordhang und Südhang. Die charakteristische Eigenschaft der Komplementarität, ein Ganzes zu beschreiben, erfordert daher zwingend Dinge als ihre Bestandteile und nie Eigenschaften. Wenn Hegel also z.B. von Herr und Knecht als einer aufhebbaren oder aufzuhebenden Polarität spricht, denkt er weder an eine unendliche Pluralität von Realisierungen zwischen den extremen Eigenschaften des Herr-seins bzw. Knecht-seins noch an das funktionale Ganze, die längst geglückte Synthese, die Herr-und-Knecht-Konstellationen als Basiselement jeder Hierarchie über Jahrtausende gebildet haben. Einerseits behauptet Hegel, daß das Wahre nur das Ganze sein kann, scheint aber andererseits zu negieren, daß der Gegensatz (und Widerspruch) erst aus der willentlichen, d.h. logischen, Auflösung des Ganzen in seine dann unverbundenen Teile entsteht. Diese Teile geistern fortan als untote Antagonismen auf ewig unvereinbar durch die (politische) Geschichte. Hegel verfällt in den gleichen Fehler wie die klassische chinesische Philosophie, nämlich die begrifflichen Inkonsistenzen, die Logik und Zeit ('objektives' Denken) mit sich bringen, reparieren zu wollen. Letztlich versteht er den Widerspruch (nach Aristoteles) als einen zwar unwahren aber formal gültigen logischen Zustand der Welt, nicht (nach Platon) als nicht seiend, d.h. als Illusion. Indem er den Widerspruch und dessen Aufhebung zum Zentrum seiner Fortschrittstheorie, die ein Prozess ist, macht, verliert er nicht nur seinen 'dialektischen' Gegenstand, sondern auch seinen Anspruch auf eine voraussetzungslose Logik. Denn der Prozess, der ein Geschehen in geschichtlicher Zeit ist, ist unbeherrschbar komplex und in seinem Resultat unvorhersehbar (siehe Corona Pandemie). Was dann bei Hegel folgt ist denn auch was Schopenhauer mit einigem Recht 'Hegeleien' nannte. Was von Hegel bleibt, ist meiner Meinung nach weniger ein stimmiges, umfassendes philosophisches System als viel mehr eine Fülle längst nicht ausgeschöpfter grundlegender Gedanken und Konzepte. Er ist dann höchst originell, aufschlussreich und oft zwingend, wenn er über die nackte Struktur des Denkens redet und verliert sich in der Beliebigkeit empirischer Bestimmungen (z.B. Soziologie), wenn er sich den Inhalten des Denkens zuwendet und sich damit über das neti-neti hinwegsetzt.

    Um zu einem tragfähigen Begriff von Dialektik zu kommen - oder besser: ihn zu de-temporalisieren und zugunsten des Begriffs Metaphysik aufzugeben - müssen zunächst untaugliche Begriffe wie Opposition, Gegensatz und Polarität durch einen anderen Begriff ersetzt werden, nämlich einen, der die alten Widersprüche als (ideo)logische Fehlkonstruktionen entlarvt und gleichzeitig eine Absolut verbindende und unwidersprüchliche Andersheit begründet, die zudem den Anspruch auf Unbedingtheit erfüllen muss. Ein guter Ausgangspunkt ist der Begriff der Korrelation. Er ist in der Wissenschaft weit verbreitet und bezeichnet die Ähnlichkeit zweier Geschehnisse, Symbolfolgen oder Datenreihen. Die Fehlschlüsse, die aus der Korrelation als Nachweis eines Wirkzusammenhangs gezogen werden können sind vielfältig aber hinreichend bekannt. Was aber bedeutet es, wenn die gutüberprüfte Korrelation zweier Größen Null ist? Dieser Zustand ist uns beispielsweise von unseren fünf Sinnen her bestens bekannt; er drückt aus, daß beispielsweise nichts im Sehen ist was im Hören ist, usw. Wenn man von mathematischen Spitzfindigkeiten absieht, ist der Begriff der Nullkorrelation mit dem der Orthogonalität identisch. Beide beschreiben das Nichtwissen (die Negation und damit Unbedingtheit) eines Zusammenhangs zwischen zwei Größen, dieses aber mit Absoluter Eindeutigkeit. Auch sind sie geeignet den Begriff der Kategorie scharf zu fassen. Damit haben wir im Unterschied zu Opposition, Polarität und Gegensatz einen Begriff zur Verfügung, der eine Absolute und Unbedingte Andersheit beschreibt, deren primäres Merkmal ihre Absolut widerspruchsfreie und wirkmächtige Additivität ist, von der auch der polare 'Widerspruch' nicht ausgenommen ist. Denn, ist nicht die Sonnenseite der Erde hell, während zur gleichen Zeit die Nachtseite dunkel ist? Ist nicht der Ätna von Berlin aus gesehen fern, während er zur gleichen Zeit von Taormina aus gesehen nah ist? Und ist nicht das Fürst-sein bezüglich seiner Untertanen gleichzeitig das Knecht-sein bezüglich des Königs? Die Adjektive sind nicht geschaffen um einer dynamisierten Welt von Objekten gerecht zu werden, sie beschreiben eine Ontologie (Wissenskörper), die nicht auf das Hier beschränkt ist. Dabei muss das Nicht-hier nicht nur räumlich sondern allgemein als das Andere der Anwesenheit verstanden werden; der Tomate kommt das Rote auch zu, wenn sie noch grün ist! Verwechselt fast die gesamte Geschichte der Dialektik den ihr scheinbar innewohnenden Widerspruch schlicht mit schwachem Denken, d.h. mit der lIllusion von Veränderung und Zeit?

    Zum Abschluss dieser Miniatur noch einige Überlegungen zu Hegel. Jenseits des höchst interpretierbaren aber seinerzeit - und teils noch heute - sehr publikumswirksamen soziologischen Überbaus seines Denkens scheint es mir einen substantiellen philosophischen Kern, bzw. Kerne zu geben. Zu denen gehört unter vielen anderen sein Verständnis des a priori, seine Philosophie der Geschichte sowie sein Begriff der Aufhebung dialektischer Momente. Hegels a priori ist zwar ohne empirische Erfahrung undenkbar aber eben doch nicht auf dieses reduzierbar. Dieses seltsame Verhältnis ist logisch widersprüchlich, wird aber verständlich, wenn das empirische Vorverständnis nicht als etwas, das es in revolutionärer Weise zu erklären gilt, gesehen wird, sondern als aktiver Zensor, der alles Neue verwirft, das nicht seinem Anspruch Absoluter Neuheit und damit Absoluter Widerspruchslosigkeit genügt. Bildhaft könnte man sagen, daß Hegels a priori das Neue auffordert seinen Stuhl selbst mitzubringen, wenn es sitzen will.

    Geschichte, als logisch konstruierte Erzählung (...dann überschritt Caesar den Rubikon und nahm Rom ein...usw.), ist für Hegel bestenfalls kontingent, auf jeden Fall aber philosophisch irrelevant. Seine Sicht auf die Geschichte ist zeitlos, mehr eine stufenförmige Entfaltung als eine quasi-lineare Entwicklung, mehr eine Frage von Begriffen als Geschehnissen, sozusagen die Geschichte aller möglichen Geschichten (von der glaubte, daß sie mit seiner Philosophie zu Ende geht). Aus diesem Blickwinkel ergibt sich zwanglos und ohne Bezug auf weltanschauliche Präferenzen Hegels Ablehnung jeglicher Evolutionstheorie z.B. im Sinne des für ihn noch zukünftigen Darwin; eine Welt, ohne daß sie jemand begrifflich denkt, ist für ihn keinen weiteren Gedanken wert.

    Auch Hegels Aufhebung dialektischer (widersprüchlicher) Momente beginnt Sinn zu machen, wenn wir z.B. an Newtons Gesetze der Bewegung denken. Sie und die natürliche Sprache standen nur scheinbar im Verhältnis des Gegensatzes der hätte aufgelöst werden müssen. Tatsächlich waren sie von Beginn an vom Verhältnis Absoluter Andersheit (Orthogonalität) geprägt. Denn Newton spricht nicht über reiche, kontextuell verbundene Begriffe wie Erde, Mond, Sonne, etc., sondern über Massepunkte, die sich infinitesimal unter dem Einfluß von virtuellen Anziehungskräften bewegen, wovon die natürliche Sprache rein gar nichts weiß! Und doch erhalten seine theoretischen Überlegungen ihre Relevanz für uns ausschließlich dadurch, daß sie den common-sense Beobachtungen (z.B. dem Fallen eines Steins) Absolut nicht widersprechen. Diese sinnlichen Beobachtungen werden unter der neuen Theorie nicht verworfen, sondern aufgehoben, d.h. einerseits durch diese überschrieben, andererseits aber, als die Bedingung der Möglichkeit (Erfahrungshintergrund) der neuen Theorie, vollumfänglich bewahrt. Aus diesem Grund reden auch heute noch, nach dreihundert Jahren, Wissenschaftler völlig ungeniert - und mit Recht - über den physikalisch unhaltbaren 'Sonnenaufgang', denn über das Phänomen (den Wissenskörper) des Sonnenaufgangs weiß die Wissenschaft rein gar nichts! Was bietet nun die illusionsfreie Dialektik, d.h. die Metaphysik, was die Logik prinzipiell nicht leisten kann? Die Antwort ist: Sinn, und das ist durchaus konkret zu verstehen.