Arthur Cardoso de Andrade ist Student der Philosophie an der Staatlichen Hochschule von Campina Grande (UFCG) in Brasilien. Er ist ein noch junges Mitglied unseres Metiers, aber eines, das Beachtung verdient, was das folgende Interview auch beweisen soll.
In jeglicher Historie gibt es eine Vielzahl an Fällen, in denen jene, die sich noch nicht gänzlich in einem Bereich etabliert haben, dennoch auf signifikante Weise dazu beitragen. Dies gründet auf der besonderen Position jener „Frischlinge“, die darin besteht, dass sie bildsprachlich mit einem Fuß bereits im entsprechenden Diskurs stehen, während sie mit dem anderen Fuß noch außen vor bleiben, und somit noch nicht völlig vom entsprechenden akademischen System absorbiert und konsumiert worden sind. Und dieser Status des „noch nicht“, des „noch nicht ganz“ ermöglicht es ihnen, Konzepte (seien sie selbst erdacht oder konfrontiert) vermehrt mit Bedacht auf deren Auswirkung auf die Realität als mit Bedacht auf deren Einfluss auf weitere Konzepte zu begreifen. Ihr „noch nicht ganz“ stattet sie mit einem Veto aus. Es erlaubt ihnen zu fragen: Ergibt das wirklich (im Sinne von: in der Wirklichkeit) Sinn? Kurzum, ein „noch nicht ganz“ ist nicht nur ein Nachteil im Diskurs. In ihm liegt auch eine Befähigung, nämlich als realistischer und eben nicht als Diskurs-Denker zu fungieren. Das „außen vor“ kann demnach auch wörtlich verstanden werden: noch teils außen, aber genau dadurch voraus.
Arthur ist (noch!) so ein realistischer Denker, und der erste (und bereits beachtenswerte) von ihm stammende Beitrag zum internationalen Metier der Philosophie ist das englische Konzept „fat aesthetics“, von welchem ich während Arthur’s Präsentation auf der Konferenz „Roman Ingarden and Our Times“ an der Jagiellonen-Universität in Krakau im April diesen Jahres erfahren durfte. Seitdem stehen Arthur und ich (via Email, GoogleMeet und Instagram) in Kontakt, und das nun folgende, drei Fragen lange Interview soll als Zusammenfassung unseres Gedankenaustausches verstanden werden.
Swantje Martach: Für sich allein stehend könnte dein Konzept „fat aesthetics“ als der Versuch gelesen werden, einen neuen und weiteren Unterbereich der philosophischen Ästhetik zu gründen. Dieser könnte dann im Zusatz und vielleicht auch im fruchtbaren Austausch stehen zu bereits existierenden Sparten wie der „everyday aesthetics“ (im Deutschen üblicherweise „Alltagsästhetik“ genannt) oder der noch jüngeren und kleineren Sparte der „maternal aesthetics“ (vielleicht „Mutterästhetik“?).
Auch wenn eine Differenzierung von Fragestellungen sicherlich zu gegebenem Zeitpunkt wünschenswert wäre; wenn ich dich richtig verstehe, erarbeitest du gerade keinen weiteren Überbegriff, sondern vielmehr ein ganz präzises Phänomen, nämlich das Schöne am Dicksein. Im Kontext unserer derzeitigen (aber wohl noch viel zu modernen) soziokulturellen Ideale ist die Behauptung einer solchen Möglichkeit, nämlich dass das Dicksein schön sein kann, schon eine provozierende These. Die Kombination der beiden Termini „fat“, was ich hier schlicht mit „dick“ übersetze, und „Ästhetik“ wird daher sicherlich das Interesse vieler Leser wecken. Darf ich dich also zu Beginn unseres Interviews gleich direkt fragen: Was ist für dich das Dicksein? Wie definierst du diesen Begriff? Und in welcher Weise kann es schön sein, dick zu sein? Anders formuliert, welche Art von Schönheit liegt im Dicksein?
Arthur Cardoso de Andrade: Bis jetzt wird das Dicksein nur im Negativen, im Pathologischen, gar im Teratologischen definiert, nämlich als ein Zu-Viel, ein Überfluss, der als hässlich angesehen wird, der dich krank macht, der sowohl die als dick bezeichnete Person als auch die mit der dicken Person im Austausch stehende Person ängstigt: Erstere fürchtet sich davor, in der Öffentlichkeit aufzutreten, bestimmte Kleidung zu tragen, schlicht sich zu zeigen; letztere erlebt eine Art sensorische Angst, ebenso wie die ichbezogene Angst auch so zu werden.
Mein Ziel ist es jedoch, das Dicksein anhand seiner positiven, ästhetischen Seite neu zu definieren. Dicksein kann auch Freiheit bedeuten. Dicksein ist auch eine Möglichkeit, dem Druck der Konventionen zu entgehen. Es ist ein Ausweg, eine Weise zu existieren abseits von bestehenden Normen und dem kontinuierlichen Bemühen, ja sogar der ständigen Sorge, sich darin einzugliedern, hineinzupassen, welche sich notwendigerweise in einer nie endenden Anstrengung manifestiert - einer konstanten mentalen sowie körperlichen Arbeit.
Mein Bestreben ist es, das Dicksein als Potential zu untersuchen. Und in diesem Potenzial liegt etwas Schönes. Das Schöne im Dicksein zu erleben, das eigene Dicksein auf schöne Weise auszuleben, ist jedoch definitiv eine Fähigkeit, die es zu erlangen gilt. Ästhetisch dick zu sein, ist eine Kunst. Der Weg dorthin beginnt mit der Erkenntnis: „Ich passe sowieso nicht rein, also hey, ich muss mich gar nicht sorgen.“
SM: Glaube mir, ich sehe seine Relevanz für den philosophischen ebenso wie für den sozialen/kulturellen/politischen Diskurs. Dennoch möchte ich dich bitten eine explizite Antwort auf folgende Frage zu formulieren: Warum geht das Dicksein uns alle etwas an? Warum ist dein Konzept „fat aesthetics“ so wichtig für die allgemeine Leserschaft?
ACA: Der allgemeinen Ansicht nach ist das Dicksein dem Dünnsein entgegengesetzt. Während das Dicksein mit Hässlichkeit und Krankheit assoziiert wird, wurde es uns beigebracht, Dünnsein mit Gesundheit und Schönheit gleichzusetzen. Dünn zu sein bedeutet einen richtigen, korrekten, adäquaten Körper zu haben. Und Dicksein bedeutet, unangemessen zu sein, es bedeutet, aus dem gegebenen Rahmen zu fallen (manchmal sogar ganz wörtlich, man denke nur an Flugzeugsitze).
De facto ist der Anteil derer, die den gegebenen Ansprüchen entsprechen, in unserer Gesellschaft jedoch nicht nur eine Minderheit. Ich wage sogar zu sagen: Er ist verschwindend gering. Denn denkt man noch realistischer, da noch präziser, reicht es, um einen korrekten Körper vorweisen zu können, nicht aus, nur dünn zu sein. Für eine körperlich korrekte Existenz musst du auch dünn auf korrekte Weise sein, d.h. du musst zum Beispiel dünn auf eine gesunde, athletische und nicht auf eine krankhafte, abgemagerte Weise sein (auch wenn das Modesystem diese Prägung bereits umkehrte, behaupte ich, dass sie weiterhin im Öffentlichen so vorherrscht). Außerdem müssen die korrekten Teile deines Körpers dünn/dick sein. Beispielsweise ist es unumgänglich, dass deine Taille schmal ist, während du weiterhin als dünn angesehen wirst auch wenn dein Brustumfang weiter ist (und dies gilt für beide Geschlechter). Daraus folgt, dass viele dünne Menschen ebenfalls nicht den gegebenen Schönheitsidealen entsprechen.
Es erscheint mir sogar so, dass niemand ihnen immerzu entspricht, entsprechen kann, denn das vorherrschende Verständnis von Schönheit grenzt diverse Momente im normalen Fluss eines Lebens aus, zum Beispiel der Bauch, wie er nunmal (auch bei den Dünnsten) existiert nach einem Abendessen, oder Beine und Füße nach einer langen Sightseeing Tour. Zugleich betont und belohnt dieses Verständnis andere konkrete Lebensmomente und deren Körperlichkeit, wie etwa den Bauch in seiner Verfassung kurz nach dem Aufstehen, noch vor dem Frühstück. Und im Laufe der Zeit, d.h. in Ansammlung der Bewegungen vollführt und Arbeiten vollzogen, werden Körper generell dicker. Man denke nur an die Hände älterer Menschen, aber auch daran wie wohlig und tröstend diese sein können! Dass solche Hände aus dem Rahmen des Schönen fallen sollen, erachte ich als unzutreffend.
Ich behaupte also, dass niemand komplett und immerzu dick/dünn ist, und dass ein Fokus auf die minimale Minderheit, auf die diese Beschreibung zutrifft, weder die Gesellschaft noch das Denken voranbringt, denn schlussendlich kann sich kaum jemand mit ihr identifizieren. Mit meinem Konzept des Dickseins versuche ich daher, die Summe an all den Körpern zu erfassen, die nicht den gegebenen Maßstäben entsprechen, und die bemerkenswerterweise die Mehrheit darstellen.
In meinem Denken ist ein dicker Körper also kein spezifisch anderer Körper. Vielmehr erachte ich das Dicksein als ein Medium, um endlich den Dualismus von dick/dünn, hässlich/schön aufzubrechen, und um zu zeigen, dass wir alle teils dick teils dünn, manchmal dicker und manchmal dünner sind, und dass eben genau dieses Werden normal ist. In diesem Sinne ist das Dicksein nicht mehr eines von zwei Extremen auf einer Skala, sondern ein Werden, in dem ein jeder sich befindet. Als ein solches betrifft das Dicksein uns alle.
SM: Interessant! Unter anderem ließ mich dein Konzept einen auffälligen Sachverhalt bemerken. Im medialen Bereich findet sich keine Person, die ihr Dick-Werden selbstständig dokumentiert (okay, einen solchen Fall gab es erst kürzlich beim deutschen Fernsehsender RTL, doch dies war eines der vielen Selbstexperimente von Jenke von Wilmsdorff, ein sonst athletischer Moderator, der hierfür bezahlt worden ist, ebenso wie er auch dafür bezahlt wurde, im Anschluss alles Zugenommene wieder operativ entfernen zu lassen). Was wir vor Augen geführt bekommen, sind allein entweder selbstdokumentierte Umkehrungen des Dickseins, gar Fluchten aus dem Dicksein, oder dokumentierte Beschuldigungen des Dick(geworden)seins anderer, etwa wenn ein Magazin ein Bikini/Badehosen-Bild einer Berühmtheit zeigt und uns vorschreibt, über die anscheinende Zunahme an Körpergewicht dieser Person schockiert zu sein.
Während im ersten Fall das Dicksein den Ausgangspunkt der Nachricht darstellt, wird es uns im zweiten Fall als abstoßendes Resultat eines Sich-Gehenlassens präsentiert, welches scheinbar nicht zum Image der meisten Stars passt. Welche Art von Norm ist es also, gegen die das Dicksein sich auflehnt, und das auf eine sehr materielle, körperliche, und somit unumgängliche, gar unübersehbare Weise?
ACA: Die vorherrschenden Schönheitsideale sind schlichtweg extrem unrealistisch. Sie stagnieren ein Werden und sie vereinfachen eine Vielschichtigkeit, die beide Leben bedeuten. Fotos von Bäuchen, wie sie in den sozialen Netzwerken gepostet werden, sind üblicherweise früh morgens, flach auf dem Rücken liegend, oder während man intensiv einatmet aufgenommen, sodass der Bauch in seinem dünnst-möglichen Moment gezeigt wird. Aber ist es nicht vielmehr normal, und in der Tat unvermeidbar, zu werden? Weil ich genau dieser Überzeugung bin, ist es mein Bestreben, eben jenes komplexe Werden, das wir sind, den normalen Fluss der Existenz, als einen neuen und entlastenden Standard zu etablieren. Auf diese Weise kann das Dicksein seinen teratologischen Ruf hinter sich lassen und das neue Normal werden.
Zusammengefasst fordere ich mehr Inklusivität und eine generell sanftere Haltung. Ein Bauch muss schön sein dürfen, nicht nur „auch“, sondern „gerade wenn“ er nach einem Fünf-Gänge-Menü gegen den Stoff eines eng anliegenden Kleides drückt. Ich denke, wir können diesen Sinneswandel herbeiführen, indem wir das Dicksein auf eine dynamischere Art verstehen. Mithilfe des Konglomerats „fat aesthetics“ versuche ich den Dualismus dick/dünn aufzubrechen, und dies ist tue ich im Hinblick eines Aufbrechens der Standards, eines Neuprägens der Konventionen, anhand derer wir unsere und andere Körper beurteilen. Gibt es nicht schon genug Beispiele von desaströsen Konsequenzen, Schmerzen, Leid, Erkrankungen, sogar Todesfällen, die mit einem Herunterbrechen des menschlichen Körpers auf einen einzelnen und statischen Seinsmoment einhergehen?
SM: Danke dir für dieses anregende Interview, Arthur.