Wie gute Beschreibungen unser wissenschaftliches Verständnis der Welt verbessern: Das Beispiel der COVID-19-Modelle

    Dieser Artikel ist im Original auf Englisch erschienen. Lesen sie den Originalartikel hier.

     Wissenschaftler*innen versuchen, die Welt um uns herum zu verstehen. Sie wollen wissen, warum sich Planeten bewegen, wie sich Berge bilden, warum sich Krankheiten ausbreiten und wie sich Arten weiterentwickeln. Eine Möglichkeit, wissenschaftliches Verständnis zu erlangen, besteht darin, Regelmäßigkeiten und Naturgesetze zu erforschen — wie Newtons Theorie der Schwerkraft — oder herauszufinden, wie sich Dinge gegenseitig beeinflussen — wie Pasteurs Entdeckung, dass Mikroben Krankheiten verursachen. In diesem Prozess entwickeln Wissenschaftler*innen Theorien oder Modelle, um die Phänomene um uns herum zu erklären. Oft können wir mit deren Hilfe dann verstehen, wie sich diese Phänomene verhalten, und manchmal befähigt uns dieses Verständnis sogar dazu, technologische Kontrolle über sie zu erlangen. Generell ist unter Philosoph*innen wie auch unter Wissenschaftler*innen die Überzeugung weit verbreitet, dass man Phänomene erklären müsse, um sie verstehen zu können. Aber ist wissenschaftliches Verständnis tatsächlich nur durch Erklärungen möglich?

    Nun ist man in der Wissenschaft natürlich nicht nur ausschließlich damit beschäftigt, den Dingen Erklärungen zu geben. In der wissenschaftlichen Praxis geht es oftmals auch nur darum, Dinge zu beschreiben oder zu klassifizieren, wie zum Beispiel die verschiedenen Tierreiche in der Biologie. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das von Mendelejew und Meyer entwickelte Periodensystem. Während es heutzutage fast ausschließlich dazu dient, die Ordnung der chemischen Elemente zu beschreiben, ist historisch gesehen auch die Entdeckung zahlreicher neuer Elemente und deren Eigenschaften unzertrennlich mit dem Gebrauch des Periodensystems verbunden.

    In unserer jüngsten Arbeit haben wir untersucht, ob Wissenschaftler*innen manche Phänomene auch dann verstehen können, wenn sie sie lediglich beschreiben, ohne für das Verhalten dieser Phänomene eine tieferliegende Erklärung zu geben. Dies ist eine recht kontroverse Idee, da man meinen könnte, dass die bloße Beschreibung der Welt nicht ausreicht, um diese auch zu verstehen. Intuitiv würde das Verstehen von Phänomenen nämlich auch erfordern, dass man sich auf eine wissenschaftliche Erklärung beruft, die diese Phänomene in Zusammenhang mit Naturgesetzen oder anderen kausalen Gesetzmäßigkeiten stellt. Andernfalls liefe man Gefahr, Korrelation mit Kausalität zu verwechseln, und während letztere zum Verständnis beiträgt, ist dies bei ersterer eindeutig nicht der Fall.

    Tatsächlich sind sich Wissenschaftler*innen dieses Problems sehr bewusst. Sie sind sehr darauf bedacht, den Fehler zu vermeiden, zwei korrelierte Ereignisse so zu behandeln, als sei eines die Ursache des anderen. Stellen wir uns vor, Lucy hat die Grippe und trinkt Orangensaft. Angenommen, sie erholt sich innerhalb einer Woche. Das bedeutet nicht, dass der Orangensaft sie geheilt hat. Es bedeutet lediglich, dass der Verzehr von Orangensaft mit dem Genesungsprozess korreliert war, d. h., dass er zur gleichen Zeit stattfand wie der Genesungsprozess. Eine Beschreibung der Ereigniskette scheint nicht auszureichen, um zwischen Korrelation und Kausalität zu unterscheiden, denn wir können lediglich die Gleichzeitigkeit des Orangensaftkonsums und der Genesung von der Grippe feststellen. Was wir wirklich wollen, ist eine Erklärung, die über das bloße Feststellen der Gleichzeitigkeit von zwei Ereignissen hinausgeht. Aber das ist in der wissenschaftlichen Forschung generell sehr schwierig, und oft auch gar nicht möglich. Wie wir in unserem Aufsatz zu zeigen versuchen, gelingt es den Wissenschaftler*innen manchmal einfach, die Welt besser zu verstehen, indem sie eine gute Beschreibung der Welt erstellen — ein Phänomen, das wir beschreibendes Verstehen nennen.

    In unserem Aufsatz geht es darum, wie Forscher*innen COVID-19-Modelle erstellt haben. Wir haben das statistisch-epidemiologische COVID-19 Model des Institute of Health Metrics and Evaluation (IHME) untersucht, um zu analysieren, wie und ob Epidemiolog*innen bei der Erstellung und Entwicklung dieses Modells den Verlauf der Pandemie besser verstehen konnten. Statistisch-epidemiologische Modelle bringen typischerweise kein kausales Wissen über die Ausbreitung einer Krankheit mit sich, sondern beschreiben lediglich deren Verlauf und versuchen, ihn auf der Grundlage eines begrenzten und recht allgemeinen Datensatzes vorherzusagen. In unserem speziellen Fall haben die IHME-Wissenschaftler*innen ihr Modell entwickelt, um den Verlauf der Sterblichkeitsrate von COVID-19 über die Zeit hinweg für einige Orte auf der Grundlage von Verläufen vorherzusagen, die bereits an anderen Orten beobachtet worden waren.

    Die Forscher*innen erstellten das statistische IHME COVID-19 Modell auf der Grundlage sehr allgemeiner Kenntnisse über die Ausbreitung der Krankheit, die sie hauptsächlich aus früheren Pandemien — wie der Spanischen Grippe — und aus den für Wuhan verfügbaren Daten ableiteten, und dann auf andere Orte extrapolierten. Das Modell ermöglichte Vorhersagen darüber, wie sich die Sterblichkeitsrate entwickeln würde, wenn keine restriktiven Maßnahmen — wie z. B. teilweise oder vollständige Ausgangssperren — ergriffen würden, sowie darüber, wie die Sterblichkeitsrate schwanken würde, wenn bestimmte Maßnahmen eingeführt würden, und zwar für verschiedene Orte auf der Welt. Zu diesen Orten gehörten unter anderem Großstädte wie London, New York, Berlin oder Madrid.

    Leider lieferte die frühe Version des IHME-Modells für jede dieser Städte Vorhersagen, die sich bald als falsch herausstellten, da sie zu stark von den späteren Beobachtungen abwichen. Wenn man wie Popper der Meinung ist, dass Theorien aufgegeben werden sollten, wenn sie sich als falsch erweisen, wäre es nun nur vernünftig gewesen, anstelle der statistischen Modelle andere zu entwickeln, wie zum Beispiel kausale epidemiologische Modelle.

    Die Epidemiolog*innen des IHME entschieden sich jedoch gegen diese Möglichkeit und beschlossen stattdessen, die Annahmen, auf denen ihr statistisches Modell beruhte, zu ändern, und es an die neu gewonnenen Erkenntnisse anzupassen.

    Eine dieser größeren Anpassungen erfolgte im April 2020. Am IHME hatte man erkannt, dass die Annahme falsch war, dass die Auswirkungen der restriktiven Maßnahmen in Wuhan an anderen Orten ähnlich sein würden. Tatsächlich waren die Auswirkungen solcher Maßnahmen von Ort zu Ort sehr unterschiedlich, was zum Teil auf soziologische Faktoren zurückzuführen ist — die Menschen reagierten an verschiedenen Orten der Welt unterschiedlich auf restriktive Maßnahmen —, zum Teil aber auch auf strukturelle Faktoren der Orte selbst, wie z. B. die Bevölkerungsdichte, die Verteilung der Bevölkerung über die Stadt, das Vorliegen einer Kluft zwischen Wohn- und Gewerbegebieten, usw.

    Daher passten die Epidemiolog*innen ihre statistischen Modelle für jeden Ort an, so dass die neuen Versionen des Modells Parameter enthielten, die speziell aus den lokalen Informationen abgeleitet wurden. Auf diese Weise entstanden siebzehn verschiedene statistische Modelle — eines pro Standort —, die alle von dem ersten, vom IHME entwickelten statistischen Modell abgeleitet wurden. Diese Modelle erwiesen sich bei der Vorhersage des Verlaufs der Sterblichkeitsraten als wesentlich genauer als ihr Vorgänger.

    Diese Modelle vermittelten kein spezifisches, kausales Wissen über COVID-19, und auch kein Wissen über Naturgesetze in Bezug auf den Verlauf von Pandemien im Allgemeinen. Sie vermittelten jedoch ein Verständnis für die Art und Weise, in der verschiedene Aspekte des jeweiligen Standorts den Verlauf der Pandemie beeinflussen würden:  ein Verständnis für die Art und Weise, in der die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung der restriktiven Maßnahmen durch die Bürger*innen die Sterblichkeitsrate im Laufe der Zeit beeinflussen würde. Diese Modelle trugen also dazu bei, ein Verständnis für die epidemiologische Dynamik von COVID-19 zu entwickeln.

    Wir haben den Begriff des deskriptiven Verstehens eingeführt, um die Art des Verstehens zu bezeichnen, das die Epidemiolog*innen des IHME durch die Entwicklung, Aktualisierung und Überarbeitung ihres Modells gewonnen haben. Die Bezeichnung "deskriptiv" bezieht sich auf die zunehmende Fähigkeit des Modells, trotz fehlender kausaler oder naturgesetzlicher Komponenten immer genauere Vorhersagen zu treffen. Diese Fähigkeit ist — neben vielen anderen — eine übliche Folge einer guten, aber rein deskriptiven Arbeitsweise, wie sie in vielen Wissenschaften zu finden ist. Eine passende Beschreibung des Kreislaufsystems ermöglicht es beispielsweise Ärzt*innen, Arterien zu erkennen, wenn sie eine Operation durchführen, da sie mit Hilfe der Beschreibung vorhersagen können, wo sich die Arterien befinden, wenn sie den Körper öffnen. Über diesen und weitere sehr spezielle Eingriffe hinaus erlaubt diese Beschreibung jedoch keine weiteren Interventionen, da sie schlichtweg keine weiteren kausalen Zusammenhänge enthält.

    Wir haben festgestellt, dass der Entwicklungsprozess der frühen Versionen des IHME-COVID-19 Modells im Hinblick auf das Erlangen und die Vertiefung dieser Art von Wissen analysiert werden kann. In diesem Prozess erlangten die Epidemiolog*innen zwar kein tiefgreifendes kausales Wissen über den Verlauf von COVID-19, jedoch konnten sie schnell erkennen, dass sie fälschlicherweise angenommen hatten, dass dieselben restriktiven Maßnahmen an verschiedenen Orten dieselben Auswirkungen haben würden.

    Durch diese Erkenntnis konnten sie ein immer umfassenderes Verständnis der Pandemie erlangen: Sie verstanden deren Verlauf besser, als sie es bei der Entwicklung der ersten Versionen des IHME-Modells getan hatten. Und die neueren Versionen ihres Modells konnten den Verlauf dementsprechend wesentlich besser vorhersagen.

    Diese neue Art des Verständnisses, das deskriptive Verstehen, sollte unserer Ansicht nach weiter von Wissenschaftler*innen und insbesondere von Philosoph*innen untersucht werden. Wir sind uns zwar nicht sicher, dass das deskriptive Verstehen in jeder Disziplin zu finden ist oder als universelle wissenschaftliche Errungenschaft betrachtet werden kann, wir glauben jedoch, dass es in vielen Disziplinen eine wichtige Rolle spielt, und wir laden die Leser*innen ein, seine Anwendungen weiter zu erforschen!