Nachruf auf Beat Sitter-Liver

ehemaliger Generalsekretär der SAGW und Freund der Philosophie

    Im letzten Jahr konnten wir das 75. Jubiläum der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften feiern. Was heute die Akademie ist, schulden wir Beat Sitter-Liver, welcher 1972 als erster hauptberuflicher Generalsekretär die Leitung übernommen hat. Nahezu alle wesentlichen Aktionslinien, die wir heute führen und bearbeiten, wurden in der Ära von Beat entweder initiiert oder übernommen: Es sind dies das Historische Lexikon und das Inventar der Fundmünzen sowie die Übernahme der vier Nationalen Wörterbücher und die «Diplomatischen Dokumente der Schweiz», bis heute Leuchttürme, sowie zahlreiche Kuratorien und Kommissionen. Diese leben weiter und wir werden sie weiter führen.
    In den 1990er Jahre hat sich die Akademie für die Sozialwissenschaften geöffnet. Beat hat sich massgeblich, auch im Parlament, für das Schwerpunktprogramm «Demain la Suisse» eingesetzt: Ermöglicht hat dieses Programm die Entwicklung und die breite Institutionalisierung der Sozialwissenschaften an den Universitäten. Über 30 Jahre hat Beat nicht zuletzt die nationalen und internationalen Beziehungen aufgebaut und professionell gepflegt.


    Das Spektrum der Akademie reicht bis heute von den Amerikanisten über die Betriebswirtschaft, die Geschichte, Kunstwissenschaften, MusikologInnen, dem Recht, den Sprachen bis hin zur Zukunftswissenschaft. Studiert hat Beat Medizin, deutsche und englische Sprache, Literatur, Philosophie, Isländisch sowie Rechtsund Staatstheorie. In der Breite wie in der Tiefe kann man mit guten Gründen Beat als einen «Universalgelehrten» bezeichnen. Verbunden damit ist die Offenheit, die dazu führte, dass sich 62 Fachgesellschaften bis heute unter einem Dach wohl fühlen, sich austauschen und zusammenarbeiten. Der Begriff «Interdisziplinarität» wurde damals kaum verwendet, aber er lebte und pflegte dies.


    In seiner Funktion als Generalsekretär und militärisch geschult, war Beat ein Manager, ein Organisator, pflegte «avant-de-lettres» Leadership d.h. Menschen zu begeistern, zu gewinnen und zu motivieren und dies erfolgreich bei NationalrätInnen, Ständeräten wie Bundesrätinnen, Forschende sowie Wirtschaftsführer, auch die Mitarbeitenden – Er war ein begnadeter Netzwerker und dies nie aufdringlich, sondern mit Stil im Auftritt und in der Sprache, mit Empathie, Offenheit und stets für die Sache. Gewonnen hat er seine Unterstützer durch eine Rhetorik, die weder aggressiv noch bedrängend war, sondern überlegt, klar, transparent und deutlich: Hier verschmelzen sich die Ethik und Ästhetik. Ebenso war er ein ausgezeichneter Gastgeber und ein Gesprächs- und Diskussionspartner: Sei es durch den Tag oder nach dem Feierabend war der Austausch mit Beat stets bereichernd und hilfreich.


    Seine Sprache war und ist für mich bis heute mündlich wie schriftlich Kunst: Geduldig hat Beat über eine lange Zeit meine Bandwurmsätze gekürzt, die Briefentwürfe kamen rot zurück und mir gelernt wie man spricht und argumentiert: Nach vier Jahren Dissertation hat er mir gezeigt, dass Sprechen Körper und Haltung ist. Bis heute begleitet mich Beat beim Sprechen und Schreiben. Leitsätze wie «in der Sache hart und in der Form weich» haben sich eingebrannt – Für die Mitarbeitenden galt «Fordern und Fördern» – Ja, man arbeitet unter Druck und dies ist in einem Generalsekretariat inhärent: Es muss jeden Tag so viel raus gehen wie rein kommt. Als im April 2002 Beat mir die SAGW übergab, hat er mir auf einem A4-Papier mit grosser Schrift ein Zitat von Baltasar Gracian überreicht. Es liegt bis heute auf meinem Pult und ich lese es wie folgt:


    «Man unternehme das Leichte, als wäre es schwer, und das Schwere, als wäre es leicht; jenes, damit das Selbstvertrauen uns nicht sorglos, dieses, damit die Zaghaftigkeit uns nicht mutlos macht.»


    Mehrmals jährlich haben mich die Lektüre dieser drei Zeilen gerettet.


    Bei allen hart erarbeitenden Erfolgen in der Wissenschaftspolitik schlug das Herz von Beat für die Kolloquien, die rund 5 Tage dauerten und wo rund 20 Forschende aus verschiedenen Disziplinen eine Thematik diskutierten: Zwischen 1983 bis 2009 initiierte und leitete Beat 25 Kolloquien. Über 26 Jahre wurden die Ergebnisse von Beat kuratiert, lektoriert, redigiert und publiziert: Nahezu jedes Jahr wurde ein Band herausgegeben, und wir reden nicht von 100 oder 200 Seiten, sondern zwischen 400 bis 500 Seiten. Dies manifestiert eine enorme Schaffenskraft, zugleich eine
    Offenheit, da von der Theologie über die Sprachen bis zur Archäologie verhandelt wurde und last but not least der Dialog: Das ist die Akademie von Platon und es ist die Akademie von Beat. Wer meint, dass abgehobene Diskurse unter Gelehrten kultiviert wurden, täuscht sich: Reagiert wurde mit dem Band «Widerstand in Rechtsstaat» 1988 auf die Flüchtlinge, denen man das Kirchenasyl verwehrte, 1998 eine scharfe Kritik am Neoliberalismus, der bis heute Leid stiftet, und die Alternative 2004 zum Gemeinwohl.
    Frühzeitig, auch «avant-de-lettres», hat er sich intensiv und wirksam mit dem Verhältnis von Mensch und Tier auseinandergesetzt. Das erste Kolloquium befasste sich mit dem «Menschlichen Verhalten. Seine biologischen + kulturellen Komponenten». Es folgten zahlreiche Artikel, weitere Schriften und Interventionen. Beat Sitter und seine Mitstreiter haben das decartinische Weltbild, wonach der Mensch ausserhalb der Natur sei, umfassend und stringent widerlegt.
    Wir alle können uns nur wünschen, dass wir endlich einsehen, dass wir irdische Wesen sind wie alles, was lebt, stirbt und den Humus für neues Leben schafft. Vielfältig tradiert werden Erfahrungen und Erkenntnisse – Eine starke Stimme ist verstummt, aber die Botschaft nicht.