Das Gedankenexperiment
In Kommunien ist die Gesellschaft auf eine ganz besondere Art eingerichtet: Die Kinder wachsen dort nicht bei ihren leiblichen Eltern auf. Schon kurz nach der Geburt treten sie in Kindergruppen ein und werden dort von besonders ausgebildeten Betreuer:innen versorgt, erzogen und unterrichtet. Diese sorgen dafür, dass es den Kindern an nichts fehlt und dass es ihnen in allen Belangen gut geht. Sie lernen dort, wie man sich in der Gruppe verhält und können enge Beziehungen zu anderen Kindern und zu den erwachsenen Betreuer:innen aufbauen. In den Gruppen verbringen sie ihre ganze Kindheit und Jugend, ihre leiblichen Eltern lernen sie nie kennen und diese müssen sich in keiner Weise um die Kinder kümmern. Deshalb gibt es in Kommunien auch keine Ehe. Die Erwachsenen können frei zusammenleben und ihre Kinder werden in die Kindergruppen aufgenommen. In Kommunien gibt es also keine Familien wie bei uns. Wozu braucht es dann überhaupt Familien?
Der Kommentar von Sabine Hohl
Im Gedankenexperiment von Silvan Imhof geht es darum, was wir Familie nennen, und wozu es Familien eigentlich braucht. In Kommunien gibt es – je nach Interpretation – keine Familien, oder aber solche, die sich zumindest stark von den uns bekannten Familien unterscheiden.
Man kann die beschriebenen Kindergruppen und ihre Betreuer:innen durchaus als Familien sehen, wenn man Familie als stabile Gruppe von Kindern und für sie zuständigen Erwachsenen begreift. Die Betreuer:innen haben die gleichen Aufgaben wie Eltern, man könnte daher sagen: Sie sind Eltern. Das stimmt jedenfalls dann, wenn sich die Gruppenzusammensetzung nicht oder kaum je ändert, also immer die gleichen Kinder mit den gleichen Erwachsenen zusammenleben. Man kann sich dann durchaus fragen: Warum überhaupt die Kinder nach der Geburt von den leiblichen Eltern trennen, wenn sie danach doch wieder in einer Familie aufwachsen? Es kann aber sein, dass in Kommunien die Familien grösser sind und/ oder sich ihre Zusammensetzung über die Zeit hinweg stärker ändert. Damit würde der der Unterschied zu unserem üblichen Familienverständnis etwas grösser.
Sehr ungewohnt ist natürlich die Idee, dass Kinder in Kommunien nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, obwohl das auch bei uns immer wieder vorkommt (Adoption, Aufwachsen mit Stiefeltern). Die Kinder lernen in Kommunien ihre leiblichen Eltern nicht einmal kennen. Ich würde vermuten, dass viele Kinder aber wissen möchten, wer ihre leiblichen Eltern sind. So ist es auch bei vielen Adoptivkindern. Wahrscheinlich wäre es auch für viele der leiblichen Eltern schwierig, ihre Kinder nach der Geburt abzugeben. Würden sie sich dann stattdessen um andere Kinder kümmern? Das müsste wohl der Fall sein, damit alle Kinder Betreuer:innen haben. Ich hätte meinen Sohn sicher nicht nach der Geburt abgeben wollen. Auch wenn ich viele andere Kinder auch sehr gerne mag, ist die Bindung an ihn doch etwas Besonderes. Natürlich lebe ich nicht in Kommunien und bin mit den für uns typischen Vorstellungen zu Familie aufgewachsen. Ich denke aber, dass das Kommunien-Modell aufseiten der leiblichen Eltern auf ziemlich starken Widerstand stossen würde. Was passiert, wenn jemand ‘sein’ Kind nicht abgeben will?
Einige der scheinbaren Vorteile von Kommunien lassen sich auch ohne eine ‘Umverteilung’ von Kindern realisieren. Die Ehe braucht es nicht, damit es Familien geben kann. Auch unverheiratete Paare haben heute Kinder und es gibt viele Patchworkfamilien. Man muss nicht einmal ein Paar sein, um zusammen ein Kind zu bekommen. Meiner Meinung nach braucht es kein bestimmtes Modell von Familie. Ganz unterschiedliche Familienformen können vielmehr nebeneinander bestehen. Manche Kinder leben mit ihren leiblichen Eltern, manche mit Adoptiveltern, und manche haben vielleicht mehr als zwei Eltern, weil sie auch noch Stiefeltern oder sonstige «Extraeltern» haben. Es braucht also vielleicht keine Familie, aber es braucht Eltern – Menschen, die Verantwortung für bestimmte Kinder übernehmen und diese über einen langen Zeitraum hinweg begleiten.