Ein Beitrag von Sarah-Jane zu einem Gedankenexperiment zu Geschlecht

Spielen wir Geschlechter? - Rollenbilder und Stereotypen

    Das Gedankenexperiment

    Im All leben hochintelligente Wesen. Diese Ausserirdischen vermehren sich, indem sie etwas ausspucken. Daraus entwickelt sich in sehr kurzer Zeit ein neues Wesen. Zwei der Ausserirdischen haben die Mission, herauszufinden, was Geschlecht ist und wie dieses bei Menschen funktioniert. Mit diesem Auftrag landen sie auf der Erde. Nach Wochen intensiven Beobachtens, sozialen Experimenten und umfangreicher Lektüre haben die Wesen alle Informationen gesammelt, die es zu Geschlecht gibt. Sie treten die Rückreise zu ihrem Heimatplaneten an. Während dem Rückflug fragt Wesen 1 Wesen 2: «Meinst du, dass wir Geschlechter machen können bei uns?» Wesen 2 fragt zurück: «Sollen wir das denn, Geschlechter machen?»

     

     

    Der Kommentar von Sarah-Jane Conrad

    Was steckt eigentlich hinter diesem Gedankenexperiment? Es setzt sich mit der Frage auseinander, ob ‘Geschlecht’ irgendeine natürliche Basis hat und was die Bedeutung dieser Kategorie ist. Schliesslich geht es darum zu klären, ob ein geschlechtloses Wesen sich Geschlecht aneignen kann oder nicht. In den Antworten auf diese Frage offenbaren sich die unterschiedlichen Positionen, welche den philosophischen Geschlechterdiskurs seit seinen Anfängen mit Simone de Beauvoirs Aussage „Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden zu Frauen gemacht“ prägen. De Beauvoir eröffnet mit ihrer Gegenüberstellung von Geschlecht-Sein und Geschlecht-Werden ein Spannungsfeld, das die Philosophie seither immer stärker beschäftigt. Die einzelnen Theorien versuchen zu klären, was Geschlecht ist, was für ein Phänomen der Begriff eigentlich bezeichnet und warum Geschlecht in unserem Sprechen, Denken und Handeln eine derart relevante Bezugsgrösse ist, dass sie uns beim Gang zur Toilette ebenso begleitet wie beim Kauf von Schuhen, der Auswahl von Hobbies, Freund:innen, dem Beruf und vielem mehr – denn all diese Handlungen werden von der Geschlechtsidentität mitbestimmt. Das Geschlecht ist alldurchdringend.

    Gibt es eine biologische Ursache hierfür? Prägt diese das Selbstverständnis von Geschlecht mit, nebst den kulturellen und sozialen Ausprägungen, die das Geschlecht unbestritten auch erfährt? Lässt sich mit der Natur erklären, weshalb Menschen meist recht ausschliesslich in entweder weibliche oder männliche Personen eingeteilt werden? Wenn diese Fragen mit «Ja» beantwortet werden, dann stellt sich die Anschlussfrage, ob Ausserirdische ohne Geschlecht überhaupt die nötigen Voraussetzungen mitbringen, um zu erfassen, was Geschlecht ist. Können sie in die verschiedenen Rollen hineinschlüpfen? Oder ist ihr Geschlechterrollenspiel nur ein So-Tun-als-ob, bei dem ihnen das geschlechtliche Dasein verborgen bleibt, weil den Ausserirdischen etwas Wesentliches fehlt für das Verständnis von den Geschlechterkategorien? Das ist eine Sichtweise auf das Gedankenexperiment.

    Eine andere ist, dass es eine komplette Fehlvorstellung ist zu glauben, dass diese binäre Positionierung von Menschen in entweder männlich oder weiblich eine natürliche Grundlage hat. Vielmehr werden die Zuschreibungen und deren Einordnung in positive oder negative Eigenschaften im zwischenmenschlichen Umgang erst hergestellt. Die Einteilung in männlich oder weiblich ist dann kein Ergebnis der Natur, sondern der Kultur. Hinweise auf unterschiedliche Chromosomen, verschiedene Geschlechtermerkmale, andere Hormonhaushalte würden dann das Geschlecht nicht erklären, weil dieses letztlich eine kulturelle Erfindung ist. Die Ausserirdischen dürften diese soziale Erfindung problemlos übernehmen können.

    Zwischen diesen beiden Positionen finden sich in der philosophischen Literatur zahlreiche Zwischentöne, die hier nicht weiter ausgeführt werden. Unabhängig von den theoretischen Vorlieben, stellt sich nämlich folgende Frage: Wenn diesem Spiel der Geschlechter der natürliche Boden ganz oder teilweise entzogen wird, was bezweckt dieses Geschlechterspiel eigentlich? Wofür steht es? Auf diese Frage hat der feministische Diskurs ebenso interessante wie entlarvende Antworten geliefert. Er hat die unterschiedliche Verteilung von Privilegien und Macht entlang der Geschlechterlinien sichtbar gemacht. Er zeigt weiter, dass die anhaltende Zuweisung von Geschlechterrollen einzig dazu diene, die bestehende Machtordnung zu untermauern. Machtinteressen werden häufig fintenreich verfolgt: Nachteile werden als Vorteile verkauft, kulturell geprägtes biologisch eingekleidet und nicht selten wird gedroht, dass eine Überwindung der bestehenden sozialen Geschlechterordnung pures Chaos bedeute.

    Das Geschlecht als natürlich vorgegeben oder als bloss kulturelle Erfindung – davon hängt es also ab, wie erfolgreich die Ausserirdischen das Geschlechterspiel spielen können. Es wäre interessant zu wissen, ob die Ausserirdischen sich freiwillig eine Welt aneignen würden, in der Menschen ab Geburt die halbe Welt genommen wird. Oder was spricht dafür? Beim Philosophieren untersuchen wir eines der Experimente der Ausserirdischen etwas genauer.

     

    Bibliographie

    Conrad Sarah-Jane, Imhof Silvan & Rebecca Etter (2021) Wollen wir Geschlechter machen? https://vimeo.com/596489791

    Kuster Friederike (2019) Philosophische Geschlechtertheorien – zur Einführung. Junius Verlag.

    Mane Kate (2018) Down Girl. The Logic of Misogyny. Oxford University Press

    Solnit Rebecca (2014) Men Explain Things to Me. Haymarket Books. Zu Deutsch: Wenn Männer mir die Welt erklären.

    Wendel Saska (2003) Feministische Ethik – zur Einführung. Junius Verlag.