Was macht digitale Erinnerung mit uns?

Verdrängt das Übermass an Erinnerung die Möglichkeit von Transformation? Eine persönliche Reflexion

    Seit wann ist die Proliferation von Bilder unserer Kindheit eine selbstverständlich gesellschaftliche Praxis geworden? Mein Vater war Fotograf, ich habe hunderte von Bilder aus meiner Kindheit. Mein Vater hat selber nur um die 20 Bilder aus seiner Jugend. Diese Diskrepanz ist sowohl zeitlich-historisch, kulturell wie auch sozio-ökonomisch begründbar.

    Die Kamera war primär Sache für Profis. Meistens Männer, meistens weiss. Kameras waren seit deren Erfindung eine teure Technologie, die für viele Schichten der Gesellschaft unzugänglich war.

    Mit dem Aufkommen der Globalisierung und des technologischen Fortschritts wurden Kameras immer billiger und somit zugänglicher. Ab den 80ern, wage ich zu behaupten, wird die Praxis der photographischen wie auch videographischen Aufnahme demokratisiert. Mit dem Aufkommen der Video Home Systems, oder VHS, wird zum ersten Mal jungen Eltern die Möglichkeit gestattet, ihre Kinder im Garten, in der Badewanne und am Strand zu filmen.

    Bereits in den späten 70ern schreibt die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Susan Sontag in ihrem Werk “On Photography”, dass die Verbreitung der Kamera immer mehr dazu führt, dass Touristen sich lediglich für das Festhalten von Erinnerung interessieren, und nicht so sehr für den Genuss des Moments. Heute ist diese Tendenz gesellschaftlich internalisiert worden: Es gibt Selfie Museums und Photography Tours auf Airbnb, die spezifisch auf das Festhalten von photographischen Momenten abzielen.

    Die Kulturwissenschaftlerin Kate Eichhorn zeichnet in ihrem Buch “The End of Forgetting” ein düsteres Bild. Stellen Sie sich vor: In, etwa 10 Jahren, wird es möglich sein, dass man als 20 Jähriger im Facebook Profil der eigenen Eltern herumstöbert. Man wird Bilder sehen können von der eigenen Kindheit, als man sogar noch ein Kleinkind war. Noch weiter zurück; das 3 year anniversary der Eltern als Liebespaar, das erste Date. Das erste peinliche Selfie von der Mutter, als sie noch 13 Jahre alt war und gerade jenen Trends folgte, die heute nicht mehr in sind.

    Selbstverständlich gab es schon immer eine Kultur der Chronik, vor allem unter den wohlhabenderen Schichten der Gesellschaft. Ganze Biografien von Chinesischen Dynastien sind noch bis heute zugänglich. Aber Bilder? Von allen? Das gab’s noch nie so wie heute.

    Und die Frage, die Kate Eichhorn stellt, is simpel: was macht das mit uns?

    Was macht es mit uns, wenn wir jederzeit überall Zugang zu unserer bildlich vermittelten Vergangenheit haben? Ist man geneigt, die Vergangenheit zu romantisieren? Macht es uns traurig, weil wir diese Momente nie wieder erleben werden? Vielleicht. Für die amerikanische Autorin führt dieses Übermass an Erinnerung zu einer Unmöglichkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Macht Sinn. Aber warum ist es denn wichtig, sich von der eigenen Vergangenheit verabschieden zu können?

    Die aus dem tief ländlichen Amerika stammende Autorin erklärt, dass es für viele Menschen, die beispielsweise in sehr konservativen Umgebungen aufwachsen, unabdingbar ist, sich davon loslösen zu können und eine neue Identität zu stiften. Sie schreibt von ihren Erfahrungen als lesbische Jugendliche und wie wichtig es für sie war, in die Stadt zu ziehen, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.

    Keine zwei Jahre war sie weg, schon erhielt sie Freundschaftsanfragen von alten Mitstudierenden auf Facebook. Die Vergangenheit lässt sie nicht los.

    OK, zu viele Bilder sind nicht gut für unsere Transformation als Individuen. Warum ist es so wichtig?

    Unsere Kunstfreunde und Kunstfreundinnen werden mir vielleicht zustimmen, dass auch in der Musik und in der Filmkultur eine nostalgische Stimmung herrscht. Das Übermass an Zugriff zur Vergangenheit mittels Facebook und Youtube führt zu einer kollektiven Nostalgie, die uns einerseits in eine Situation versetzt, wo ein Grossteil der populären Filme und Lieder sich ästhetisch von den 80s informieren lassen. Andererseits verdrängt es auch die Möglichkeit, neue Formen zu schaffen, da der Kanon des bereits etablierten über unserer kollektiven Vorstellungskraft lauert, wie der Geist des Vaters über den Prinzen in Shakespeare’s Hamlet.

    In 2019 waren beispielsweise ein Grossteil der meistverkauften Filme im Box Office lediglich Remakes, Reboots, Sequels und Prequels .

    Verdrängt das Übermass an Erinnerung die Möglichkeit von Transformation? Wird die Schöpfung vom Neuen durchs Alte immer verunmöglicht?