Was kann Wut? Das Potential der Hässigen

    Dr. Banner ist Atomphysikerin. Sie ist ein sehr ruhiger Mensch und lässt sich nicht leicht aus der Fassung bringen. Nur eines macht sie wütend: Wenn sie sieht, dass jemandem Unrecht zugefügt wird. Aber leider ist sie oft zu schwach und machtlos, um einzuschreiten und das Unrecht zu verhindern.

    Eines Tages geht bei einem ihrer Experimente etwas schief. Dr. Banner wird verstrahlt, mit fatalen Folgen: Jedes Mal, wenn sie wütend wird, verliert sie die Kontrolle über sich und verwandelt sich in ein grünes Monster mit übermenschlichen Kräften. Erst wenn sie sich wieder beruhigt hat, erhält sie ihre normale Gestalt zurück. Wenn sie nun ein Unrecht beobachtet und wütend wird, verwandelt sie sich und kann dank ihrer Monsterkräfte einschreiten und helfen. Weil sie aber als Monster keine Kontrolle über sich hat, geht dabei viel kaputt und oft verursacht sie mehr Schaden als Gutes. Was soll Dr. Banner mit ihrer Wut und ihren Monsterkräften anfangen?

     

    Kurzanalyse (von Philipp Blum)

    Aristoteles zählt die Wut unter die Erregungen, die wir passiv erleiden und die uns angenehm und unangenehm sein können. Obwohl wir solchen Erregungen gegenüber passiv sind, können wir dafür kritisiert werden, von ihnen zu wenig oder zu viel zu haben, im Fall der Wut kalt und teilnahmslos oder jähzornig zu sein. Gut sind wir, wenn wir vernünftig sind, das heisst für Aristoteles: wenn wir in der Mitte liegen, nicht zu fest und nicht zu wenig zornig werden.

    Aber wo liegt die Mitte und wann ist es richtig, überhaupt wütend zu sein, ob stark oder schwach? Vielleicht ein wenig über Aristoteles hinausgehend, würde ich sagen: unsere Wut ist richtig, sogar lobenswert, wenn sie sich auf Ungerechtigkeit richtet. Im Jargon der Emotionsphilosophen: Ungerechtigkeit ist das formale Objekt der Wut, das ihre Adäquatheitsbedingungen bestimmt. Wütend sein ist also dann und nur dann ok, wenn die Wut auf eine Ungerechtigkeit gerichtet ist - natürlich muss es dafür eine echte Ungerechtigkeit sein, nicht nur eine vermeintliche oder vermutete.

    Und: wo die richtige Mitte ist, hängt nicht nur vom Mass der Ungerechtigkeit, sondern auch von der Person ab, die wütend ist. Wer viel empfindet und wenig Macht hat, soll auch sehr wütend sein. Umso mehr, wenn sich die Wut auf eine massive, fundamentale und nicht mehr wiedergutzumachende Ungerechtigkeit richtet, wie beispielsweise bei Extinction Rebellion. Wer mehr Macht und andere Handlungsmöglichkeiten hat, muss der Vernunft mehr Spielraum einräumen: auch wenn uns Putins Angriffskrieg zu recht wütend macht, müssen wir uns gut und vernünftig überlegen, wie wir darauf reagieren sollen.


    Für Frau Dr. Banner heisst dies: als Mensch ist ihre Wut gut und richtig, sogar lobenswert, auch (und sogar gerade) weil sie (relativ...) machtlos ist. Als Monster hingegen hat sie mit mehr Macht auch mehr Verantwortung, auch ihren eigenen Gefühlen gegenüber: es ist besser, wenn sie ihre Monsterkräfte vernünftig überlegt statt blindlings wütend gegen die Ungerechtigkeit einsetzt.