Die Sehnsucht nach dem Spiegelbild

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    Der Mensch war nie dafür gemacht, sein eigenes Gesicht sehen zu können. Fernando Pessoa beschreibt in seinem Werk «Das Buch der Unruhe», dass die Natur dem Menschen das Geschenk gab, sich selbst nicht sehen zu können. Mit dieser Aussage hatte er wohl recht, denn der Mensch benötigt nicht nur Hilfsmittel, um sich selbst anschauen zu können, sondern sieht sich durch diese sogar verfälscht. Durch den Spiegel betrachtet er sich spiegelverkehrt und auch die Kameras können nicht akkurat aufnehmen, wie der Mensch tatsächlich ausschaut. Es gibt nicht einen Moment, in dem der Mensch sich selbst wahrhaftig sehen konnte.
     
    Und trotzdem sehnt er sich danach. Er sehnt sich nach seinem Spiegelbild. Er sehnt sich danach, sich selbst betrachten zu können. Er will sich beobachten und bestaunen. Ein Leben ohne Spiegel wäre für ihn unvorstellbar. Denn er muss wissen, wie er aussieht; muss wissen, wie alle anderen ihn sehen. Die Vorstellung, durch die Welt zu laufen, ohne einen blassen Schimmer, wie die Menschen ihn wahrnehmen, wäre schrecklich für ihn. Das wäre seine persönliche Hölle, wenn sein Aussehen in den Händen anderer liegen würde. Er braucht Kontrolle darüber, wie die Menschen ihn sehen. Schliesslich repräsentiert sein Aussehen gegen aussen, wie er innerlich ist, wie er sein will oder wie er gesehen werden möchte.
    Wie schrecklich wäre es, wenn er keine Kontrolle darüber hätte, wie er von aussen gesehen wird. Wenn keine Spiegel oder Kameras existieren würden, die ihm wenigstens ein Hauch einer Ahnung geben, wie er wahrgenommen wird. Dann würde er dem Blick des Anderen erliegen. Die Anderen würden bestimmen, wie er wahrgenommen wird, wie Sartre es in seinem Werk «Die geschlossene Gesellschaft» so schön beschreibt. Ohne Spiegel ist er davon abhängig, dass die Anderen sich ehrlich zu seinem Aussehen äussern. Die Anderen dienen ihm nun als Spiegel. Doch kann er ihrem Urteil trauen? Wenn sie sagen, «Ja, du hast den Lippenstift richtig aufgetragen» oder «Nein, du hast keine Essensreste zwischen den Zähnen» - woher weiss er, dass sie ihn nicht anlügen? Sie sind es nun, die über sein Aussehen bestimmen, darüber, wie er durch die Welt läuft und wie er von den Anderen gesehen wird. Er hat keine Macht mehr über seine eigene Identität. Er ist vollkommen von den Blicken der Anderen abhängig. Sie bestimmen nun, wer er ist. Er kann nur darauf vertrauen, dass sie ihn sehen. Dass sie ihn so sehen, wie er sich selbst sieht – so, wie er gesehen werden will. Hoffnungslos klingt das! Denn «die Hölle, das sind die Anderen!», wie Sartre schon meinte. Wie kann er denn denen trauen, bei so etwas Wichtigem, wie seinem Äusseren?
     
    Nein, den Anderen kann er nicht trauen. Nur er sieht, wie die Anderen ihn sehen sollten. Diese Kontrolle gibt er bestimmt nicht ab. Die Anderen sollen nicht darüber entscheiden, wie er gesehen wird – wie er ist! Wie er wahrgenommen wird, liegt nur in seinen Händen. Er entscheidet, welche Fotos von ihm eine korrekte Repräsentation seiner Selbst sind. Er malt sich sein Gesicht mit Makeup so, wie es gesehen werden sollte – mit vollen Lippen und geröteten Backen. Er ist besessen davon, zu bestimmen, wie er aussieht. Genau so sieht er aus. So und nicht anders. So sollen ihn alle sehen.
     
    Doch wenn ihm dann ein Foto von seinem Äusseren gezeigt wird, geschossen aus einem Winkel, aus dem er sich nicht selbst betrachten kann – dann kracht sein Bild, das er sich über sein Äusseres gemacht hat, zusammen. So sehen sie ihn schon die ganze Zeit?! Sieht er denn tatsächlich so aus?! Unmöglich, denkt er sich. Er kann doch nicht schon die ganze Zeit durch die Welt gelaufen sein und dabei so ausgesehen haben. Dieses Aussehen repräsentiert nicht, wie er sich selbst wahrnimmt! So sollen ihn die Anderen auch nicht wahrnehmen, denn das zeigt nicht, wie er ist. Er hat Mühe zu akzeptieren, dass die Anderen ihn nicht so sehen, wie er sich selbst sieht. Niemand sieht ihn so, wie er sich selbst sieht. Dabei vergisst er, dass der Mensch nicht dafür gemacht ist, sich selbst sehen zu können.