Vaihingers Katze: Der Nutzen der Fiktion

Die Fiktion ist ein gedankliches Konstrukt, dem in der Realität nichts entspricht. Der deutsche Philosoph Hans Vaihinger begründet die Nützlichkeit von Fiktionen nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Ethik bis hin zu Kants Gottesannahme.

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    In seinem Werk „Die Ökonomie von Gut und Böse“ greift der tschechische Nationalökonom Tomáš Sedláček die Wirtschaftswissenschaften scharf an. Insbesondere auf die Modelle der Volkswirte hat es der Ökonom abgesehen: Ob Konjunktur-, Preis-Absatz oder Arbeitsmarktmodelle, ob „unsichtbare Hand des Marktes“ oder „rationale Entscheidungen des Homo Oeconomicus“ - all diese Modelle erwiesen sich in der Realität oft als fehlerbehaftet, bisweilen sogar dysfunktional. Für Sedláček stellt sich somit die Frage: „Was sind unsere Modelle? Bemühen sie sich, wahr zu sein, oder sind sie lediglich nützliche Instrumente? Doch wie können sie nützliche Instrumente sein, wenn sie nicht für sich in Anspruch nehmen, auf irgendeine Weise wahr, gültig zu sein? “. Dabei können Modelle auch Nutzen stiften, wenn sie keinen Anspruch auf Wahrheit haben. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Dienen Modelle letzten Endes gar nicht dem Erkenntnisgewinn? Folgen wir der altbekannten Definition Platons, wonach Wissen wahre und gerechtfertigte Meinung sei , gehen wir damit an der Idee des Modells vorbei, ein Fehler, den offenbar auch Sedláček begangen hat.

    Was ist also ein Modell? Der Kant- und Nietzsche-Forscher, Neukantianer und als Wegbereiter des Konstruktivismus geltende deutsche Philosoph Hans Vaihinger hat dazu 1911 eine programmatische Schrift vorgestellt, die den zentralen Gedankengang bereits im Titel trägt: „Die Philosophie des Als Ob“. Der österreichische Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick berief sich in seinem Aufsatz „Wirklichkeitsanpassung oder angepasste Wirklichkeit?“ auf Vaihinger und stellte seine Idee in Form folgender Geschichte aus dem Orient vor: Ein Vater hat 17 Kamele und 3 Söhne. Sein Testament sieht vor, dass der älteste Sohn die Hälfte erben soll, der zweite Sohn ein Drittel und der dritte Sohn ein Neuntel. Nun ergibt diese Verfügung weder zusammen 100%, noch lässt sich 17 durch eine dieser Zahlen dividieren. Aber so steht es nun mal im Testament. Da kommt ein Mullah auf einem Kamel dahergeritten, hört sich das Problem an – und löst wie folgt: Er gibt sein eigenes Kamel dazu. Von den nun 18 Kamelen erhält der älteste Sohn neun, das ist die Hälfte. Der zweite Sohn erhält sechs Kamele, was zwei Dritteln entspricht und der dritte Sohn bekommt zwei – also ein Neuntel. Alle Kamele zusammengerechnet ergeben wiederum 17, bleibt das Kamel des Mullahs übrig, das er wieder besteigt und seinen Weg fortsetzt. Was ist passiert? Der Mullah konnte die scheinbar unlösbare Aufgabe lösen, indem er sie rechnete, „als ob es 18 Kamele seien“. Da er sein eigenes Kamel zunächst hinzurechnete, dann aber wieder abzog, lässt sich dieses als „fiktives Kamel“ bezeichnen.

    Fiktion vergrössert Handlungsoptionen

    Was genau ist nun eine Fiktion? Vaihinger versucht den Begriff zunächst durch Synonyme zu umschreiben. Ihm fallen dabei unter anderem ein: „Rechenmarke, Grenzbegriff, Spielbegriff, Regel, Imagination, Quasibegriff, Denkfigur oder Hilfshypothese “. Ethymologisch gesehen beschreibt „Fictio“ die „Tätigkeit des fingere, also des Darstellens, künstlerischen Formierens, das Sich-Vorstellen, Denken, Einbilden, Annehmen, Entwerfen, Ersinnen, Erfinden. Zweitens bezeichnet es das Produkt dieser Tätigkeiten, die fingierte Annahme, die Erdichtung, Dichtung, den erdichteten Fall“ . Die Fiktion ist eine rein psychologische Arbeitsleistung, deren Resultat die zweckmässige Aneignung des Wahrgenommenen ist, eben ein Konstrukt, das Ergebnis einer Denkleistung . Vaihinger zufolge erleichtert die Fiktion das Denken aufgrund der Anschaulichkeit und Nützlichkeit des ersonnenen „Quasibegriffs“ und vergrössert die Handlungsoptionen – wie Watzlawick an dem Kamelbeispiel aufgezeigt hat.

    Woher kommt nun aber diese wundersame Wirkung der Fiktion? Die Antwort findet Vaihinger bei Nietzsche, welcher darauf hinweist, dass Denken nun einmal von der Sprache abhängt und diese sei an sich schon voll von falschen Voraussetzungen: „Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und für sich seiend“ .

    Indem wir denken, konstruieren wir etwas, das längst nicht mehr Abbild der Realität ist: Die Kategorisierung der Lebewesen? Reine Fiktion. Aktien, das Geld, Währungskurse? Eine Erfindung des Geistes. Auch die Mathematik besteht fast ausschliesslich aus Fiktionen: Der Kreis, das gleichschenklige Dreieck, die Zahl Pi, selbst so einfache Formen wie das arithmetische Mittel – all das gibt es so in der Realität nicht, sondern wir erdenken sie uns als Kunstbegriffe . Selbst bei so simplen Begriffen wie „Katze“, mag man vielleicht noch an die konkrete eigene Hauskatze denken, jene graugetigerte etwa, die gerade faul auf dem Sofa liegt und vielleicht auf den Namen „Susi“ hört. Das ist aber nicht das, was der Begriff „Katze“ meint. Er beschreibt nicht jene graugetigerte Susi, sondern verweist stattdessen auf den übergeordneten Gattungsbegriff, also die abstrahierte Form aller denkbaren Einzelkatzen, das Surrogat davon. Vaihinger weist darauf hin, dass der Vorstellung „Katze“ nichts Reales entspricht, was sich mit ihr deckt. Demnach weicht bereits hier das Denken von der Wirklichkeit ab . „Katze“ als Gattungsbegriff ist also sehr weit vom Wahrheitsbegriff entfernt. Dennoch ist er als Gattungsbegriff nützlich, vereint er doch alle wesentlichen Eigenschaften, die allen Einzelkatzen gemein sind. So kann man Aussagen über die Katze an sich treffen – und damit Susi und all die anderen Katzen mitmeinen.

    Fiktionen gibt es auch in viel komplexeren Gebieten. In der Rechtsprechung findet man etwa natürliche und juristische Personen – rein fiktive, versteht sich. Und die Soziologie musste mit dem Egoismus zunächst einen Begriff einführen, um Handlungen kausal begreifbar zu machen, um mit dem Altruismus später einen Gegenbegriff aufzustellen, mit dem Ziel, wie August Comte es ausdrückt, „das egoistische System wieder verlassen zu können“ – das Bild des Watzlawickschen Kamels drängt sich dabei förmlich auf.

    Zwingli gegen Luther: Das Marburger Religionsgespräch

    Was aber ist Fiktion, was Hypothese und was gar ein Dogma? Synonym können diese Begriffe wohl kaum verwendet werden. Vaihinger stellt hier einen Bedeutungswandel in der Philosophiegeschichte fest: „Die ursprünglichen Dogmen des Christentums werden bei den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts Hypothesen. Was aber sind sie bei Kant und Schleiermacher? Nur Fiktionen!“ . Einen illustrativen Einblick in diesen Bedeutungswandel vermittelt uns etwa das Marburger Religionsgespräch von 1529, das man sich eher als einen erbitterten Streit zwischen den beiden Reformatoren Martin Luther und Ulrich Zwingli vorstellen muss. Luther besteht hartnäckig darauf, dass das heilige Abendmahl, also der darin gereichte Wein und die Hostien „…der Leib und das Blut Christi wahrhaftlich (hoc est) substantive et essentialiter, non autem quantitative uel qualitative uel localiter, im Nachtmahl gegenwärtig sey“ . Zwingli lehnt das ab. Für ihn sind Wein und Hostien nicht mehr als „Zeichen oder heilige Symbole“. Während Luther also im Abendmahl noch eine Hypothese verorten wollte, sah Zwingli darin lediglich eine Fiktion. Der Unterschied ist bedeutsam: Während eine Hypothese als ein adäquater Ausdruck der noch unbekannten Wirklichkeit verstanden werden kann, stellt sich die Fiktion als eine inadäquate, subjektive, bildliche Vorstellungsweise dar, deren Zusammentreffen mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist . Die Hypothese will entdecken, die Fiktion erfinden. „Morgen wird es regnen“ wäre also etwa eine Hypothese. Begriffe wie „Gott, Moral oder Ethik“ müssen wir hingegen in die Kategorie „Fiktion“ einordnen.

    Aus heutiger Sicht würden wohl selbst eingefleischte Lutheraner eher auf der Seite Zwinglis stehen, aber wie würde man diese Entscheidung begründen? Vaihinger zufolge ist zunächst diese klare Differenzierung notwendig: „Solange aber solche Fiktionen eben nur als das gelten, was sie sind, und nicht für Hypothesen ausgegeben werden, können sie der Wissenschaft oft wirklich erhebliche Dienste leisten“ .

    Um den Nutzen von Fiktionen für die Wissenschaft erkennen zu können, argumentiert Vaihinger mit Kant. In der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ stellt dieser zunächst fest, dass die Willensfreiheit dem Naturprinzip der Kausalität zuwiderläuft. Dennoch muss er sie als unbewiesene Voraussetzung annehmen: „Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus“ . Vaihinger verweist vor diesem Hintergrund auf die gängige Praxis der Rechtsprechung: „Zuerst wird A unter den Begriff des freien Menschen subsumiert, sodann dadurch unter die Strafbarkeit. Der Begriff der Freiheit fällt aber damit heraus, er hat nur dazu gedient, das Urteil möglich zu machen. “. Auch hierbei fällt es nicht schwer, sich das Watzlawicksche Kamel in Erinnerung zu rufen.

    Ist die Fiktion Gottes notwendig?

    Vaihinger stellt sich nun die Frage, ob das, was in der Rechtsprechung offenbar problemlos funktioniert, auch in der Ethik funktionieren kann. Bekanntlich mangelt es auch dort an zuverlässigen Grundlagen. Verkürzt ausgedrückt: Ist Ethik auch ohne Gott denkbar oder braucht es dazu die Fiktion Gottes? Diese Frage war Gegenstand des „Jenaer Atheismusstreits“, die 1799 den beiden Hauptprotagonisten Friedrich Karl Forberg und Johann Gottlob Fichte jeweils ihre Anstellung gekostet hatten. Forberg schrieb in dem von Fichte herausgegebenen „Philosophischen Journal“: „Kann ein Atheist Religion haben? Antwort: Allerdings. Von einem tugendhaften Atheisten kann man sagen, dass er denselben Gott im Herzen erkenne, den er mit dem Munde verleugnet. “.

    Bereits 18 Jahre zuvor hatte der von Fichte verehrte Kant ganz ähnliches gesagt: „Die Idee Gottes sowie alle spekulativen Ideen will nichts weiter sagen, als das die Vernunft gebiete, alle Verknüpfung der Welt nach Prinzipien einer systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob sie insgesamt aus einem einzigen allbefassendem Wesen als oberster und allgenugsamer Ursache entsprungen waren. Es handelt sich dabei um nichts als eine subjektiv-formale Regel unserer eigenen Vernunft“ . Und 1796 präzisierte Kant diese Aussage in einem Aufsatz: „An ihn [Gott] aber moralisch-praktisch glauben, heisst nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr annehmen, damit man, jenen gebotenen Zwecken zu verstehen, Aufklärung, und ihn zu bewirken, Triebfedern bekomme, […], sondern um nach dem Ideal jenes Zweckes so zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre. “ Auch Vaihinger zieht daraus den Schluss, dass eine reine Ethik nur auf Grund der Anerkennung ihrer fiktiven Grundlage aufgebaut werden kann: „Wir sollen wohl so handeln, als ob es unsere von Gott auferlegte Pflicht wäre, als ob wir dafür zur Rechenschaft gezogen würden, als ob wir für Unsittlichkeit bestraft würden“ .

    Selbst Nietzsche vermag Vaihinger als Vertreter der Gottesfiktion aufzubieten: „Der Glaube an das Beharrende, an das Dauernde, an das Unbedingte, ist nicht der am meisten wahre, sondern der am meisten nützliche Glaube “. Daraus folgt: „Es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage: ‚Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‘ durch eine andere Frage zu ersetzen: ‚Warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?‘ – nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen, weshalb sie natürlich auch falsche Urteile sein könnten! “.

    Nietzsche hält zudem wenig davon, der Wahrheit ewig nachzujagen: „Meine Philosophie ist umgekehrter Platonismus: Je weiter ab vom wahrhaft Seienden, umso reiner, schöner, besser ist es “. Da auch Kant das moralische Gesetz für eine blosse Idee hält , können wir wie folgt die Ausgangsfrage von Tomáš Sedláček beantworten: Modelle bemühen sich keineswegs, „wahr“ zu sein. Sie sollten vielmehr als nützliche Fiktion gesehen werden. Der Anspruch auf Gültigkeit ist also keineswegs eine Voraussetzung für deren Nützlichkeit, im Gegenteil: Nur als Fiktion beweisen ihren Wert, allerdings nur dann – dies zeigte das Marburger Religionsgespräch – wenn sie klar als Fiktion erkannt und benannt werden. „Mystisch sind solche Vorstellungen nur“, so Vaihinger, „…wenn man in ihnen Hypothesen sieht, aber als bewusste Fiktionen sind sie wertvoll. Wir haben also nicht bloss die Fiktion von der Hypothese zu unterscheiden, sondern auch gegen ihre Verächter zu schützen“ .

     

    Quellen:

    [1] Sedláček, Tomáš: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 144
    [2] Vgl. Platon: Theaitetos 201, c-d
    [3] Watzlawick, Paul: Wirklichkeitsanpassung oder angepasste Wirklichkeit? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Heinz Gummin und Heinrich Meier: Einführung in den Konstruktivismus, München 2016. S. 98f.
    [4] Vgl. Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923. S. 100f.
    [5] Ders., ebda., S. 83
    [6] Ders., ebda., S. 3
    [7] Nietzsche, Friedrich: Der Wanderer und sein Schatten, Vers 11
    [8] Vgl. Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923., S. 159
    [9] Ders., ebda., S. 205
    [10] Vgl. Comte, Auguste: Système de politique positive, Paris 1912. S. 131
    [11] Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923. S. 140
    [12] Luther, Martin, zitiert in: Schubert, Hans v.: Die Anfänge der evangelischen Bekenntnisbildung bis 1529/30, Leipzig 1928, S. 41
    [13] Vgl. Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923. S. 264
    [14] Vgl. ders., ebda., S. 26
    [15] Kant, Immanuel, GMS, BA 98
    [16] Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923. S. 118
    [17] Forberg, Friedrich Karl: Entwicklung des Begriffs der Religion, in: Philosophisches Journal, 1/1798, S. 42-44
    [18] Kant, Immanuel, KrV, A686, B714
    [19] Ders.: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, 1796
    [20] Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923. S. 51
    [21] Nietzsche, Friedrich: Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882, Band 3, S. 24
    [22] Ders: Jenseits von Gut und Böse, in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 574ff
    [23] Ders.: Nachgelassene Jugendschriften, S. 190
    [24] Kant, Immanuel, KrV, A813, B841
    [25] Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1923. S. 56