Philosophie als Therapie

Wittgenstein und der raue Boden

 

Der vorliegende Text untersucht Wittgensteins Anspruch, Philosophie als Therapie zu betreiben. Es handelt sich um eine Analyse Wittgensteins philosophischer Entwicklung, die sowohl stilistische, inhaltliche, aber auch motivationale Aspekte seiner philosophischen Haltung beleuchtet. Daran anknüpfend wird der philosophische Blick Wittgensteins mit dem Michel Foucaults in Verbindung gebracht. Obgleich für gewöhnlich selten miteinander verglichen, hält eine Betrachtung ihres Denkens vor einem gemeinsamen Hintergrund fruchtbare Ansätze für ein besseres Verständnis ihrer jeweiligen Auffassung von Philosophie als Tätigkeitsform bereit.

·

    Wozu philosophieren? Suchen wir im Werk Ludwig Wittgensteins nach einer Antwort auf diese Frage, scheint diese sehr deutlich auszufallen:
    „Friede in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert“ (VB, 91).
    Doch wie ist ein solches Ziel zu erreichen? Vergleichen wir Wittgensteins Frühwerk mit seinem Spätwerk, scheint er dieser zweiten Frage auf vielfältige Weise auf den Grund gegangen zu sein. Und doch scheint sich bei allen Unterschieden eine gewisse Haltung, ein Grundanspruch, mit welchem er Philosophie betreibt, durchzuziehen. Dieser Grundanspruch lässt sich in seiner Feststellung erkennen, Philosophie sei eine Form der Therapie (vgl. PU, §133). In dieser Hinsicht behandelt der Philosoph „eine Frage; wie eine Krankheit“ (PU, §255). Gerade in Hinblick auf seine frühe Schrift Tractatus logico-philosophicus gilt es also zu klären, ob wir hier bereits einem Philosophen begegnen, der eine Linderung der quälenden Fragen der Philosophie gefunden hat. Dies zu vermuten, scheint umso berechtigter, wenn man beachtet, dass er im Vorwort des Werkes behauptet, „die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben“ (TLP, Vorwort). Wie die vorliegende Analyse jedoch zeigen soll, kann sich der souverän-anmutende Philosoph des Tractatus der erhofften Heilung von der krankmachenden Rastlosigkeit des Denkens nicht sicher sein. Nach einem Überblick über seine frühe Philosophie gilt es also zu überprüfen, auf welche Weise er dem Ziel des Gedankenfriedens in seinem späteren Werk näherzukommen versucht.
     
    Der Tractatus und der Blick von oben

    Den Kern des Tractatus bildet die Frage nach dem Verhältnis von Welt und Sprache (vgl. Volbers 2009, 32). Die Welt lässt sich nach Wittgenstein nicht unabhängig von unserer Sprache und der ihr inhärenten Logik begreifen. Auch die Philosophie, die über die Jahrhunderte hinweg in verschiedensten Gestaltungen versucht hat, dem Verhältnis von Sprache und Welt auf den Grund zu gehen, muss sich, sofern sie nicht den Anspruch der Mitteilbarkeit aufgeben möchte, stets innerhalb des logisch-strukturellen Rahmens unserer Sprache bewegen. Wenn wir also versuchen, mit unseren sprachlichen Mitteln das Verhältnis von Sprache und Welt zu überprüfen, stoßen wir nach Wittgenstein zwangsläufig an eine Grenze (vgl. TLP, Vorwort). Wir erfahren, wie David Schalkwyk es beispielsweise nennt, die „Undenkbarkeit der Grenzen zwischen Sprache und der Welt“ (vgl. Schalkwyk 2006, 88). Es gibt keine Möglichkeit aus diesem Abhängigkeitsverhältnis herauszutreten, um es selbst denkend zu untersuchen. Wir können nicht hinter die logische Form unseres Denkens zurückgehen, „[d]enn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können“ (TLP, Vorwort), was im Umkehrschluss nichts anders bedeuten kann, als dass uns die „Sprachlichkeit der Sprache […] ein permanentes Mysterium [bleibt]“ (Mersch 2002, 253), wie Dieter Mersch sagt.
    Diese Sprachlichkeit ist nicht sagbar, wie Wittgenstein feststellt, sondern zeigt sich lediglich als mystisches Gefühl: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Hervorhebung i.O.; TLP, 6.522) Die Trennung zwischen Sagen und Zeigen ist Wittgensteins Antwort auf ein Problem, das sich in der Philosophiegeschichte immer wieder aufgedrängt hat (vgl. Volbers 2009, 33). Dabei stilisierten sich Denker*innen immer wieder zu metaphysischen Beobachter*innen, welche eine Position sub specie aeternitatis zu beanspruchen versuchten. Und auch Wittgensteins berühmte Leiter-Metapher, nach der diejenige, die seinen Überlegungen bis zum Schluss gefolgt ist, ebendiese Überlegungen schlussendlich als unsinnig erkennen und wie eine Leiter wegwerfen muss, nach dem sie auf ihr hinaufgestiegen ist – auch dieses Bild suggeriert das Ideal eines erhabenen Ortes, der einen befreiten Blick von außen auf unsere sprachliche Struktur verspricht (vgl. Schalkwyk 2006, 84).
     
    Die Philosophischen Untersuchungen und der raue Boden

    In den darauffolgenden Jahren scheint sich bei Wittgenstein eine Tendenz zur Problematisierung des Blickes von oben einzustellen (vgl. Schalkwyk 2006, 89).  So schreibt Wittgenstein bereits im Jahre 1930 in Bezug auf die Leiter-Metapher des Tractatus folgendes:
    „Wenn der Ort, zu dem ich gelangen will, nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf, dahin zu gelangen. Denn dort, wo ich wirklich hin muss, dort muss ich eigentlich schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht.“ (VB, 460) In den Philosophischen Untersuchungen vollzieht Wittgenstein die Abkehr von einer erhöhten bzw. unsituierten Perspektive (vgl. Schalkwyk 2006, 84). Die Neuverortung seines philosophischen Standpunktes wird dabei bereits in seinen einleitenden Worten zum Aufbau des Werks sichtbar. War der Tractatus noch einer strengen, formalen Gliederung unterworfen, so weist Wittgenstein im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen eigens darauf hin, dass es sich bei diesem Werk lediglich um „Landschaftsskizzen“ (PU, Vorwort) handle, die „mit allen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet“ (PU, Vorwort) seien und sich von ihm selbst nicht zu einem Ganzen zusammenschweißen ließen (vgl. PU, Vorwort). Wir treffen hier demnach nicht mehr auf jemanden, der behauptet, die Probleme der Philosophie gelöst zu haben, sondern auf einen Denker, der beständig sein eigenes kommunikatives Scheitern zu vermuten scheint, sein Missverstehen sprachlicher Bedeutungen, das Brüchigwerden seiner Bewertungsmaßstäbe.
     
    Bereits auf der stilistischen Ebene fällt auf, dass die Philosophischen Untersuchungen von einem metaphorischen Motiv durchzogen sind, welches der einstmaligen Hoffnung auf eine vermeintlich erhabene Perspektive „von oben“ diametral entgegensteht. So sagt Wittgenstein in §107: „Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“ (Hervorhebung i.O.; PU, §107) In den Philosophischen Untersuchungen finden wir uns nicht mehr auf dem Weg zu einem erhöhten Beobachtungspunkt, sondern mit beiden Beinen auf dem widerständigen Grund der wirklichen Welt, in „Städten“ (PU, §18), in „Labyrinthen“ (PU, §203), in „Landschaften“ (PU, Vorwort) oder vor unseren philosophischen Problemen wie in einer überwältigend fremden Umgebung stehend, in der wir uns eingestehen müssen, uns nicht auszukennen. Wenngleich manche Stellen darauf hindeuten, dass das Ideal eines zu überblickenden, systematischen Ganzen für Wittgenstein in gewisser Hinsicht bestehen bleibt und er auch in den Philosophischen Untersuchungen einer „übersichtliche[n] Darstellung“ (PU, §122) explizit eine „grundlegende[ ] Bedeutung“ (PU, §122) zuspricht, so hat diese Darstellungsform eine andere Färbung als die des Tractatus. Denn während der literarische Stil des Tractatus noch einem Gestus des Erhabenen folgt, so lässt sich der Stil der Philosophischen Untersuchungen vielmehr einem Gestus des Alltäglichen zuordnen, wie Jörg Bernardy feststellt (vgl. Bernardy 2014, 202f.).
    Die Neuverortung auf dem Boden des Alltäglichen prägt auch seine sprachphilosophischen Überlegungen. Während Wittgenstein im Tractatus Sprache entlang ihrer idealen, logischen Form untersucht, begreift er sie in seinem Spätwerk als „Lebensform“ (PU, §23). Als solche gerät ihr logischer Aufbau in den Hintergrund und etwas anderes tritt in den Vordergrund der Analyse: ihre alltägliche Verwendung. Sein Ziel ist es, die Bedeutungen unserer Wörter, Begriffe oder Bilder zu überprüfen, in dem wir Situationen beobachten oder imaginieren, in denen diese Bedeutungen an Grenzen stoßen, uns problematisch werden, zu Irrtümern führen, brüchig werden. Für die Philosophie gilt es, gerade diese Gebrauchssituationen zu beschreiben.
    In den Philosophischen Untersuchungen ist Sprache für Wittgenstein folgerichtig nicht mehr zu trennen von der Tätigkeit des Sprache-Gebrauchens (vgl. Volbers 2009, 34). Nur dadurch wird es uns erst ermöglicht, die „Luftgebäude“ der metaphysischen Sprachbetrachtung zu zerstören, „und wir legen den Grund der Sprache frei, auf dem sie standen.“ (PU, §118)
    Doch was gewinnen wir durch diesen Perspektivwechsel? Und wie sieht dieser Ort aus, von dem aus die philosophischen Probleme angemessener behandelt werden können? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen eingehenderen Blick auf die sprachphilosophischen Ausführungen der Philosophischen Untersuchungen zu richten.
     
    Wittgenstein und die Genealogie

    Betrachtet man die Metaphorik der Philosophischen Untersuchungen, scheint es berechtigt zu sein, sie dahingehend zu deuten, dass sich die Probleme der Philosophie auflösen ließen, wenn man sie nur mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit verankert in Angriff nehmen würde. Brüchig wird diese Hoffnung, wenn man berücksichtigt, dass den verschiedenen Variationen dieses Bildes eine gemeinsame Prämisse zu Grunde zu liegt, die Wittgenstein in §123 ausformuliert: „Ein Philosophisches Problem hat die Form ‚Ich kenne mich nicht aus.‘“ (PU, §123). Der Anspruch, sich denkend auf dem „rauhen Boden“ (PU, §107) der konkreten Wirklichkeit zu verorten um die philosophische Fragen „aus der Nähe [zu] betrachten“ (Hervorhebung i.O.; PU, §51), setzt demnach in gewisser Hinsicht die Gefahr voraus, sich verloren zu fühlen, den Halt und die Orientierung zu verlieren. Eine Gefahr, von der sich jene zu entziehen wähnen, welche sich denkend in einer „prinzipiellen Differenz zur Welt“ (Volbers 2009, 29) zu setzen versuchen, welche sich auf die Suche nach überzeitlichen, notwendigen Wahrheiten oder Eigenschaften begeben. Eine Suche, die danach strebt, „das Fundament, oder Wesen, alles Erfahrungsmäßigen zu verstehen“ (PU, §98) wie Schalkwyk es nennt, und die dadurch seit jeher auf trügerische Weise sicheren Halt zu bieten verspricht, einen Kompass durch die Undurchschaubarkeit und Komplexität der Lebenswirklichkeit.
    Eine Wittgenstein‘sche Philosophie hingegen, die sich fest in der kulturellen Praxis ihrer Zeit verwurzelt weiß und von diesem Standpunkt aus die Probleme, Irrtümer und Grenzen der Sprache umsichtig zu erkunden versucht, soll das denkende Subjekt dazu befähigen, sich von ebendiesen metaphysischen Verwirrungen freizumachen. Dass eine solche Philosophie anti-essentialistisch sein muss, wird vor allem in §108 ersichtlich:

    Wir reden von dem räumlichen und zeitlichen Phänomen der Sprache; nicht von einem unräumlichen und unzeitlichen Unding. […] Aber wir reden von ihr so, wie von den Figuren des Schachspiels, indem wir Spielregeln für sie angeben, nicht ihre physikalischen Eigenschaften beschreiben. (PU, §108)

    Eine solche ablehnende Haltung gegenüber ahistorischen oder substanzfokussierten Erklärungsversuchen finden wir auch bei Friedrich Nietzsche und Michel Foucault explizit ausformuliert. Während in der Philosophiegeschichte immer wieder universale, überhistorische, transzendentale oder teleologische Prinzipien zu den Fundamenten der jeweiligen Argumentation erklärt wurden, zielen Foucault und Nietzsche auf eine Zerschlagung solcher Argumentationslinien. Die Parallele zu Wittgenstein, auf die ich hier hindeuten möchte, wird unter anderem an einer Stelle eines Aufsatzes Foucaults ersichtlich, an der er Nietzsches Weigerung diskutiert, in der Philosophie nach Ursprüngen zu suchen:

    Weil es bei solch einer Suche [nach den Ursprüngen] in erster Linie darum geht, das Wesen der Sache zu erfassen, ihre reinste Möglichkeit, […] ihre unveränderliche, allem Äußerlichen, Zufälligen […] vorausgehende Form. (Foucault 2002, 168)

    Es bedürfe vielmehr einer Veränderung der Perspektive, einer Abkehr von der Suche nach einem vermeintlichen Ursprung unserer Bewertungsmaßstäbe, Begriffsbedeutungen oder Verhaltensweisen. Nur wenn wir uns des geschichtlichen Gewordenseins ebendieser gewahr werden, wird nach Foucault ersichtlich,

    [d]ass es hinter den Dingen „etwas ganz anderes“ gibt: nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren. (Foucault 2002, 168f.)

    Eine Philosophie, die sich aus dem Bewusstsein ihrer eigenen Perspektivität heraus die „Irrtümer[n], falschen Einschätzungen und Fehlkalkulationen [nachzuvollziehen versucht], die hervorgebracht haben, was für uns existiert und Geltung besitzt“ (Foucault 2002, 172), eine solche Philosophie verfährt, nach Nietzsche und Foucault, genealogisch. Und als solche sucht sie nicht nach der „unversehrten Identität“ (Foucault 2002, 169) eines Ursprungs. Sie muss gerade in den „Niederungen“ (Foucault 2002, 171), in den „Labyrinthen“ (Foucault 2002, 171), auf dem „Boden“ (Foucault 2002, 106) nach der Herkunft unserer Dispositionen, unseres Sprachverständnisses oder Wissenskonfiguration suchen. ‚Herkunft‘ meint dabei zwar die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, allerdings geht es den beiden bei diesem Begriff

    nicht so sehr darum, bei einem Individuum, einem Gefühl oder einer Idee die jeweils gemeinsamen Gattungsmerkmale zu bestimmen […], sondern darum, die vielfältigen, subtilen, einzigartigen, subindividuellen Merkmale aufzuspüren, die sich darin kreuzen und ein schwer zu entwirrendes Netz bilden. (Foucault 2002, 171)

    Meines Erachtens hat Wittgenstein etwas ähnliches im Blick, wenn er von der ‚Familienähnlichkeiten‘ innerhalb oder zwischen den Sprachspielen spricht, denn

    [s]tatt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, - sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. (Hervorhebung i.O.; PU, §65) 

    Die verschiedenen Sprachspiele als Verwandtschaft, als „kompliziertes Netz“ (PU, §66) zu betrachten, eröffnet uns die Sicht auf die verschiedenen, nie auf eine absolute Ursprünglichkeit oder Wesenhaftigkeit rückführbaren Merkmale einer Familie, denn dort „übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc.“ (PU, §67).
    Nach ebensolchen Ähnlichkeiten unserer Begriffe, aber auch Grenzen der Ähnlichkeiten, nach Unterschieden, Irrtümern und Missdeutungen sucht Wittgenstein in seinen sprachphilosophischen Fiktionen alltäglicher Kommunikationssituationen. Indem er ein Licht auf den gewöhnlichen Gebrauch unserer Wörter wirft, arbeitet er die vielfältigen Funktionsweisen unserer sprachlichen Gebilde heraus und macht so deutlich, inwieweit sich unsere Begriffe innerhalb verschiedener Praktiken transformieren oder entwickeln (vgl. Schalkwyk 2006, 99). Mit der Kreation fiktiver Momente des Sprachgebrauches verfährt also auch Wittgenstein durchaus genealogisch. Nicht im Sinne Foucaults, der den prozessualen Charakter unserer Sprach- und Subjektivierungsformen anhand einer Auseinandersetzung mit historisch-konkreten, textlichen Äußerungen aufzuweisen versucht. Bei Wittgenstein lässt sich von einer genealogischen Methodik vielmehr in der Hinsicht sprechen, als dass er mit der Erschaffung fiktiver Beispiele grammatischer Problemsituationen „Herkunftsgeschichten unserer Irrtümer und Missverständnisse“ (Bernardy 20014, 200) rekonstruiert, wie es Jörg Bernardy formuliert.
    Darüber hinaus kommt es fast einer Definition des genealogischen Programms gleich, wenn Wittgenstein im Paragraph 127 betont, dass „Philosophie […] ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck“ (PU, §127) ist. Bezogen auf Wittgensteins Sprachphilosophie lässt sich dieser Zweck mit Schalkwyk als eine Rückführung der Sprachspiele in ihre Heimatverstehen – was sich nach meiner Auffassung durchaus mit dem Anspruch Foucaults in Verbindung bringen lässt, nach der Herkunft unserer Subjektivierungsformen zu forschen. Ein wichtiges Instrument für die Erfüllung dieses Zweckes scheint für Wittgenstein das Finden und Erfinden von „Zwischengliedern“ (Hervorhebung i.O.; PU, §131) zu sein, beispielsweise durch die „Bildung von fiktiven Begriffen, die uns die unseren erst verstehen lehren“ (VB, 555). Die Literatur bietet uns beispielsweise einen fruchtbaren Anhaltspunkt, wenn es darum geht jene Zwischenglieder zu finden. Verstehen wir literarische Welten als „Vergleichsobjekte“ (PU, §131), als „Maßstäbe“ (PU, §131) für unsere lebendige Welt, werden wir in die Lage versetzt, die Bedeutung unserer Begriffe in konkreter menschlicher, kultureller Praxis zu überprüfen. Wie Schalkwyk bemerkt, macht ebendiese Praxis „unter Umständen sowohl Unterschiede wie Ähnlichkeiten deutlich und enthüllt ebenso die Art und Weise, wie sich Begriffe unter dem Druck sich verändernder Praktiken entwickeln oder verändern können.“ (Schalkwyk 2006, 99)
    Doch nicht nur in der erzählenden Literatur, auch Wittgenstein selbst ist beständig mit der Kreation, mit dem Erfinden solcher „Zwischenglieder“ beschäftigt ist. In den Philosophischen Untersuchungen treffen wir auf eine große Menge an fiktiven Situationen des Alltages, auf Variationen verschiedenster imaginativer Momente, in denen die Sprache uns problematisch wird, in denen unsere sprachliche Praxis an ihre Grenzen stößt. Schalkwyk stellt zurecht fest, dass Wittgenstein in dieser Hinsicht dichterisch ist (vgl. Schalkwyk 2006, 99). Die poetische Dimension der Philosophischen Untersuchungen macht zugleich eine Spannung erkennbar, die nicht nur seine sprachphilosophischen Überlegungen, sondern wohl ganz fundamental Wittgensteins Verständnis seines eigenen philosophischen Tätigseins durchzieht. Und auch wenn der Tractatus von einer Sehnsucht nach einem beruhigenden Blick von oben geprägt ist, lassen sich dort Formulierungen finden, die darauf schließen lassen, dass Wittgenstein Philosophie grundsätzlich nicht als eine dogmatische Lehre, als ein Aufstellen von Theoriensystemen aus einer souveränen, alles-überschauenden Perspektive versteht, sondern als „eine Tätigkeit“ (TLP, 4.112). Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Tätigkeit, sondern um eine für den Subjektivierungsprozess signifikante, therapeutische Übung. Im §133 der Philosophischen Untersuchungen verweist Wittgenstein auf diese therapeutische Dimension der Philosophie: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“
    Die imaginativen Dialoge der Philosophischen Untersuchungen, die konsequente Infragestellung der eigenen Deutungen, Denkbilder und Wahrnehmungen – alle diese können als Aspekte einer Arbeit an sich selbst betrachtet werden. Eine Arbeit, welche durch schöpfende Wiederholung ein Sich-Öffnen gegenüber den virtuellen Möglichkeiten des Selbst erlaubt. Möglichkeiten, die wir, wie Klaus Puhl es nennt, „bisher noch nicht denken konnten, Erfahrungs-, Handlungs-, und Lebensformen, die wir noch nicht aktualisiert haben“ (Puhl 2009, 119). Wittgenstein verfolgt demnach mit der genealogischen Ausrichtung seiner Philosophie einen echten, therapeutischen Ansatz, der nicht auf die Konstruktion einer kontextunabhängigen Lehre mit Ewigkeitsanspruch abzielt, sondern auf die Transformation des eigenen Selbst, das sich seiner Einbettung in geteilte Lebensformen stets bewusst ist (vgl. Volbers 2009, 34).


     
    Literaturverzeichnis

    Bernardy, Jörg (2014) Warum Macht produktiv ist. Genealogische Blickschule mit Foucault, Nietzsche und Wittgenstein, München: Wilhelm Fink Verlag.
    Foucault, Michel (2002) „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in Daniel Defert (Hg.), François Ewald (Hg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band II: 1970-1975, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 166-190.
    Mersch, Dieter (2002) Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Wilhelm Fink Verlag.
    Puhl, Klaus (2009) „Worüber man nicht sprechen kann, das muss man wiederholen“ in Gunter Gebauer (Hg.), Fabian Goppelsröder (Hg.) und Jörg Volbers (Hg.): Wittgenstein. Philosophie als „Arbeit an Einem selbst“, München: Wilhelm Fink Verlag, 113-128.
    Schalkwyk, David (2006) „Wittgensteins ‚unvollkommener Garten‘. Die Leitern und Labyrinthe von Philosophie als Dichtung“,in John Gibson (Hg.) und Wolfgang Huemer (Hg.): Wittgenstein und die Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 84-109.
    Volbers, Jörg (2009) Selbsterkenntnis und Lebensform. Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault, Bielefeld: transcript Verlag.
    Wittgenstein, Ludwig (1984) Werkausgabe Band 1. Tractatus logico-philosophicus / Tagebücher 1914-1916 / Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. [Tractatus logico-philosophicus zitiert mit Sigle TLP, Satz; Philosophische Untersuchungen zitiert mit Sigle PU, § und Nummer]
    Wittgenstein, Ludwig (1984) Werkausgabe Band 8. Bemerkungen über die Farben / Über Gewissheit / Zettel / Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. [Zitiert mit Sigle VB, Seitenzahl]