“Ich möchte, dass Journalist:innen das besprechen"

Geflüchtete Menschen erzählen von ihren Erfahrungen mit der Schweiz und über das, was alle Schweizer:innen wissen sollten

    Die folgenden Texte stammen aus einem Schreibworkshop, der am 25. Mai 2023 im Sprachkaffee in Luzern stattgefunden hat. Jeden Donnerstagabend treffen sich Geflüchtete und Einheimische im Neubad Luzern, spielen Karten und reden über Gott und die Welt. So sollen Kontakte hergestellt und Deutsch gelernt werden. Darüber hinaus kann das gemeinsame Spielen etwas Leichtigkeit in den Alltag bringen. 
    Für den Schreibworkshop hatte ich verschiedene Fragen mitgebracht, darunter zum Beispiel: “Was ist meine Geschichte?”, “Was bedeutet die Schweiz für mich?”, “Was möchte ich der Schweiz sagen?”, “Was bedeutet Freiheit für mich?”. Als erstes traf ich Sergej, einen jungen Mann aus der Ukraine. Er schaute bedächtig die Blätter mit den Fragen durch, schnappte sich ein Schreibpapier und Stifte, verschwand mit einer der Fragen an einen abgelegenen Tisch und begann zu schreiben:

     

    Was ist meine Geschichte?
    Von Sergej Preobrazhenskyi (30 Jahre alt)
     
    Ich komme aus der Ukraine. In meinem Land tobt ein Krieg. Aber das ist nicht das, worüber ich sprechen möchte. Ich hatte in der Ukraine Krebs. Ich wurde im Januar 2022 krank, noch bevor der Krieg begann. Ich hatte ein Lymphom. Krebs ist keine Strafe, aber es ist trotzdem schwierig, die Krankheit zu bekämpfen. Vor allem wegen des Krieges. Die Chemotherapie und die Bestrahlung haben sich schlecht auf meine Gesundheit ausgewirkt. Jetzt bin ich in einem schlechten Gesundheitszustand und habe eine Behindertengruppe (wahrscheinlich Behindertenausweis, Anmerkung A.R.). Im April 2022 flohen meine Freunde vor dem Krieg in die Schweiz. Sie arbeiten und leben jetzt hier. Sie haben mir angeboten, zu ihnen zu kommen. Sie haben mir einen Job angeboten, aber es hat nicht geklappt. Ich bin im Herbst 2022 in die Schweiz gekommen. Mir gefällt es hier sehr gut: Gute Menschen, Natur, Verkehr und Medizin. Ich bin versichert und die Schweizer Ärzte kümmern sich um meine Gesundheit. Heute lebe ich in der Schweiz, lerne Deutsch und treffe neue Freunde. Es gefällt mir hier sehr gut und ich denke daran, hier zu bleiben… oder?

     

    “Das ist die Formel für das Glück”, sagte der Journalist und Englisch-Lehrer Ferit Biçici, und reichte mir seinen Text: 

     

    Was möchte ich der Schweiz sagen?
    Von Ferit Biçici
     
    Ich möchte, dass alle Menschen ihre Rechte haben. Dass auch unsere kurdischen Leute überall auf der Welt ihre Rechte bekommen. Wir sind alle Menschen und wir verdienen alle Grundrechte zu bekommen. Ich möchte, dass wir alle unsere Kräfte verbinden und gegen Ignoranz, gegen Armut, gegen pandemische Krankheiten kämpfen. Ich finde Kriege sind “eine Verzweiflung für die Menschheit”. Ich möchte, dass alle Menschen im Frieden, mit der Natur und auch mit einer ökologischen Perspektive leben.

    Drei Teilnehmer des Sprachkaffees schrieben über den ersten Eindruck, der die Schweiz in ihnen hinterliess:

    Was bedeutet die Schweiz für mich?
    Von Igor
     
    Die Schweiz ist ein sehr schönes Land mit vielen interessanten Sehenswürdigkeiten und die Natur ist auch gut. In der Schweiz sind die Leute sehr nett. Die Schweiz hat viele grosse Berge. Ich möchte verschiedene Städte ansehen. Die Leute sind sehr pünktlich und fleissig und arbeiten viel. Ich habe viele Vögel im Wald gesehen, als ich dort mit meinem Sohn Velo gefahren bin. 

    Was bedeutet die Schweiz für mich? 
    Von Yurii Levchenko
     
    Hallo. Mein Name ist Yurii. Ich komme aus der Ukraine. Ich bin 31 Jahre alt, ich wohne in Ebikon. Ich spreche Ukrainisch, Russisch und ein bisschen Deutsch. Ich bin LKW-Mechaniker von Beruf, meine Hobbys sind Joggen und Lesen.
    Für mich bedeutet die Schweiz, viele offene Türen zu haben, die Möglichkeit Neues kennenzulernen. Das Deutschlernen interessiert mich, es ist jedoch eine Herausforderung. Die Schweiz ist ein gutes Land mit vielen Möglichkeiten und schönen Sehenswürdigkeiten. Dieses Land hilft mir und meiner Familie, ich habe viel Glück jeden Tag. Die Leute hier sind immer pünktlich, so genau wie eine Uhr. 

     
    Was bedeutet die Schweiz für mich? 
    Von Tahid Jalili
     
    Die Schweiz ist für mich ein kleines Paradies mit wunderschöner Natur und einer schwierigen Sprache, aber sehr netten Menschen. Schweiz bedeutet Schokolade und Käse und Fondue und Älplermagronen. 


    Viele wollten nichts schreiben. Aus Angst vor Konsequenzen, wenn ihr Name in einer Zeitung steht. Andere berichten, dass sie bereits viele Briefe an die Behörden geschickt haben, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Wieder andere sehen im Erzählen keinen Sinn, bezweifeln, dass es etwas in der Welt ändert. 

    Andere beschweren sich, dass in den Zeitungen oft negativ über geflüchtete Menschen geschrieben wird, aber dass niemand so genau weiss, wie es ihnen geht, niemand ihre Geschichten kennt. “Genau deshalb bin ich hier” sagte ich und versuchte zu überzeugen, ohne zu überreden, betonte mehrmals, dass niemand erzählen muss, aber alle, die wollen, erzählen können. Auch Nico (Name geändert) wollte zuerst nichts schreiben. Am Tisch entstand eine Diskussion über Sinn und Unsinn des Erzählens. Ein Mann in der Runde streckte eins der Blätter mit den Fragen in die Luft. Auf dem Blatt stand “Was bedeutet Freiheit für mich?”. “Es gibt nichts zu erzählen”, sagte er scherzend, “es ist ganz einfach. Freiheit gleich B-Ausweis”. Nico ergänzte: “Ja, mit dem F-Ausweis ist die Schweiz wie ein Gefängnis”. Ich fragte nach, wie er das genau meint und er willigt ein, ein Interview über seine Geschichte zu geben; es gibt doch etwas, was er der Schweiz sagen möchte:

     

    Was möchte ich der Schweiz sagen?

    Gespräch mit Nico (Name geändert)

    Ich bin Nico. Ich bin seit 4 Jahren in der Schweiz und komme aus dem Irak. Ich habe ein halbes Jahr in Griechenland gewohnt und bin fast zwei Monate an der Grenze von Griechenland und Albanien gewesen und dann bin ich in die Schweiz gekommen mit einem Lastwagen. Ich habe 24 Stunden in einem Lastwagen gesessen, ohne Essen, ohne Trinken. Mein Fuss ist immer eingeschlafen, weil ich mit angewinkelten Knien sitzen musste. Es war sehr schwierig. 
    Dann bin ich in der Schweiz angekommen, im Asylcamp in Neuenburg (Boudry). Ich war 5 Monate dort, dann 1 Monat in Fribourg. Dann wieder in Boudry, ungefähr 6-8 Monate. Dann hatte ich Transfer nach Luzern und habe im Sonnenhof in Emmenbrücke gewohnt, für fast 2 Jahre. Ich bin in die Schule gegangen, habe einen Deutschkurs besucht und eine Schnupperlehre gemacht. Ich habe eine Lehrstelle bekommen. Ich bin im ersten Jahr der 2-jährigen Lehre als Schreiner. Meine Noten sind sehr gut. 
    Mein Betrieb feiert sein 50 jähriges Jubiläum und wir gehen in den Europapark. Ich habe bei der Migration gefragt, ob ich mitgehen darf oder nicht. Die Migration hat gesagt, ich darf nicht mitgehen. Mein Betrieb hat ein Bestätigungsschreiben gemacht, dass es sicher ist, dass sie alles bezahlen usw. Und die Migration hat einfach ohne Begründung gesagt: Nein, du darfst nicht gehen. Das war sehr, sehr, sehr hart für mich. Ich beziehe keine Sozialhilfe.  Ich habe in einem Türkenladen gearbeitet. Ich habe im Garten gearbeitet. Ich habe verschiedene Arbeiten gemacht. Aber ohne Ausbildung ist es schwierig. 
     
    Ich möchte der Schweiz sagen: Für Flüchtlinge ist es sehr schwierig. Ich habe eine F-Bewilligung. Ich darf nicht ins Ausland gehen. Zum Beispiel am Donnerstag ist Feiertag und mein Betrieb gibt mir 5 Tage frei, aber ich kann nicht meine Verwandten in Deutschland besuchen. Das ist das Problem.
     
    Alina: Du hast vorher gesagt, es fühlt sich an wie ein Gefängnis für dich. Du fühlst dich gefangen, weil du nicht reisen kannst?
    Nico: Ja, also wenn jemand im Gefängnis ist in der Schweiz, ich habe gehört, dort haben sie Fernsehen und Fitness, es gibt Fussball und alles.
    Aber ja, die Schweiz für Migranten ist wie ein Gefängnis. Verstehen Sie? Es ist wie ein Gefängnis. Zum Beispiel wenn ich meine Bewilligung bekomme, den B-Ausweis, dann bleibe ich nicht in Luzern, ich gehe zu meinem Onkel nach Genf. Ich habe schon 2, 3, mal in Bern bei der Migration angefragt, ob ich nach Genf gehen kann, aber mit dem F darf ich nicht in einen anderen Kanton gehen. Und ich darf nicht in einem anderen Kanton arbeiten. Das ist auch schwierig. 
     
    Ich möchte etwas sagen: Alle haben Probleme, mit dem Arbeiten, mit der Familie. Es ist schwierig in der Schweiz zu bleiben. Es ist schwierig einen neuen Kanton kennenzulernen und neue Kollegen kennenzulernen. Das ist sehr, sehr schwierig. Ich kann keine Weiterbildung machen mit dem F-Ausweis. Weil mit diesem Lohn geht es nicht. 
    Ich möchte nicht in mein Land gehen. Ich habe viele Probleme in meinem Land. Aber nach Deutschland. Ich möchte nicht auf einen anderen Kontinent gehen, z.B. Australien oder Afrika, ich möchte nur nach Deutschland zu meinen Verwandten. Ich möchte eine Begründung hören. Ich habe eine Lehre, wieso kann ich nicht nach Deutschland gehen?
    Ich möchte in die Ferien gehen. In der Schweiz gibt es keine Sonne im Winter, ich möchte einfach ein bisschen in die Sonne gehen, ein bisschen Ferien machen, entspannen.
    Alina: Wie alle anderen auch. 
    Nico: Ja, wie alle anderen auch. 
     
    Aber ich möchte mich bei der Schweiz auch bedanken. Ich habe immer warmes Wasser, ich habe immer Strom, ich habe Essen. Es gibt Vor- und Nachteile. Die Schweiz ist ein gutes System. Aber das System für Migranten ist nicht so in der Balance. Ich bedanke mich bei der Schweiz, sie unterstützt mich. Ich muss nicht auf der Strasse schlafen. In anderen Ländern landet man auf der Strasse, wenn man abgelehnt wird. Ich finde die Schweiz ein schönes Land. Ich bin hier in Sicherheit. Ich bin nicht ganz persönlich sicher, aber viele Grundrechte sind für mich sicher. Ich möchte, dass Journalisten das besprechen. 
     
    Ich bin jung und ich möchte meine Zukunft planen. Aber mit dem F-Ausweis muss man warten. Ich kenne Leute, die 15 Jahre schon hier sind mit dem F-Ausweis und sie warten immer noch. Du musst eine Ausbildung machen und die Sprache lernen, klar. Man muss 1, 2 Jahre eine Arbeit haben, das ist klar. Aber ich kenne Leute, die keine Straftaten haben, sie bezahlen alles, Krankenkasse usw. Aber sie dürfen nicht hier bleiben. Warum? Ist das Rassismus? Die Leute sind schon nett, aber vielleicht ein bisschen rassistisch.