Warum trifft uns ein Suizid anders als ein natürlicher Tod?

Eine Einsendung im Rahmen des Essaywettbewerbs zum Thema "Selbstmord"

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    “Es ist unendlich traurig, dass wir alle hier sind. Und doch hat es auch etwas schönes, dass unser aller Herzen von ihr berührt werden konnten.” Die Geschichten aus der Kindheit sind näher, die Trauergemeinde jünger, zusammengesetzt aus Schulfreunden, Verwandten, Freunden und Menschen, die ein Hobby geteilt haben. Die Abdankung nach einem Suizid einer jüngeren Person hat eine andere Atmosphaire als die Abdankung eines alten, kranken Menschen. Doch waren nicht beide Tode eine gewisse Erlösung? Haben nicht beide Menschen stark gelitten? Was macht den Unterschied, den wir deutlich empfinden, aus?

    Wenn jemand Suizid begeht, gehen wir meist davon aus, dass diese Person noch ein langes Leben vor sich gehabt hätte. Ein potentiell schönes Leben, auch wenn die Person dies nicht gesehen hat. Wir bedauern alles, was noch hätte kommen können. All die möglichen Erlebnisse, Feste und Gespräche, bei denen wir die Person gerne begleitet hätten. Wir bedauern aber auch Erfahrungen, die diese Person nie machen wird, sei das je nach Alter eine Hochzeit feiern, Mutter, Vater, Onkel, Tante oder Pat*in werden, eine Ausbildung abschliessen oder mit den Enkelkindern spazieren gehen. Wir bedauern all das, was hätte sein können in der Annahme, dass die Person ein langes, gesundes Leben gehabt hätte.

    Laut dem Bundesamt für Statistik werden bloss 7-8% der Suizide von Personen unter 25 Jahren begangen und über 70% werden von über 45-Jährigen begangen (bfs Schweiz). Bedauern wir bei diesen älteren Menschen weniger verpasste Erlebnisse als bei den unter 25-jährigen? Meiner Meinung nach nicht. Obwohl einige der genannten grossen Ereignisse im Leben eines 50-jährigen Menschen, der Suizid begeht, bereits vergangen sein mögen, bedauern wir andere Erlebnisse die gekommen wären. Die Anzahl dieser Erfahrungen, und gleichzeitig das Alter der Person, macht in einem Suizidfall keinen bedeutenden Unterschied für die Angehörigen.

    Wie ist das im Vergleich zu einem natürlichen Tod? Bei den meisten Menschen findet dieser im hohen Alter statt. In einem Alter, in dem sehr sehr viele dieser Erfahrungen schon gemacht wurden. Und doch sind da immer mehr, für die Angehörigen, wichtige Ereignisse, welche dann ohne die Schwester, den Vater oder die Urgrosstante geschehen werden. Die Anzahl an Erlebnisse, die im Leben gemacht wurden und vor allem die Anzahl derjenigen, die nicht gemacht wurden, haben meiner Ansicht nach einen kleinen Einfluss auf den Unterschied in der Trauer.

    In einem gewissen Alter sprechen wir davon, dass jemand noch “guet zwäg isch” und den Haushalt selbst meistern kann oder aber jemand “hät abgeh” und geht in ein Altersheim. Bei gewissen Dingen, die die Person nicht mehr machen kann, merken wir, dass es vermutlich bald zu Ende geht. Meist werden die Verwandten informiert und alle, die möchten, können noch ein letztes Mal vorbeikommen und sich von der sterbenden Person verabschieden.

    Eine Person, die suizidal ist, trägt dies oft deutlich unsichtbarer mit sich durch den Alltag. Kein Fussgänger auf der Strasse vermutet, dass diese Person dem Tode nahe steht. Oft merken es auch die Angehörigen nicht, oder wollen es sich nicht eingestehen. Selbst wenn die Person in Therapie war, ist dies kein Thema, welches leichtfertig am Frühstückstisch angesprochen wird. Menschen, die nicht in den aller engsten Kreis gehören, haben erst Recht oft keine Vorahnung. Und doch werden von der Trauer alle betroffen. Die Kindheitsfreunde, welche sich aus den Augen verloren haben, die Grosseltern, die ihre Enkel in letzter Zeit viel zu selten gesehen haben, die Geschwister welche nun Einzelkinder sind und all die Freunde der Familie, die die Person an Feiern getroffen haben.

    Doch warum ist dies anders als bei jemandem, der durch einen Unfall plötzlich aus dem Leben gerissen wird?

    Ein Suizid im nahen Umfeld bringt die Gefahr mit sich in Gedanken immer wieder Fragen zu überdenken in der Art von “Was wäre gewesen wenn ich… gemacht hätte? Wie hätte ich besser für sie*ihn da sein können? Hätte ich es durch … verhindern können?” Wir schreiben uns selbst damit eine gewisse Schuld am Tod zu. Meiner Ansicht nach, ist in den allermeisten Fällen diese Schuldzuweisung zwar eine natürliche Reaktion, jedoch nicht hilfreich. Ein Suizid wird selten spontan begangen, weil eine Freundin sich zu wenig kümmert oder eine Beziehung zu Bruch ging. Menschen, die suizidal werden, leiden oft schon lange Zeit davor unter diversen Erfahrungen und Belastungen (bag Schweiz). Die Schuld ist nicht in jemandem zu suchen. Meiner (kontroversen) Sicht nach hat niemand Schuld an einem Suizid. Nicht die Menschen im Umfeld, die ihrer Ansicht nach mehr hätten tun können, nicht die Person, die keinen Ausweg mehr gesehen hat, nicht die Therapeutin, die den Patienten nicht von den suizidalen Gedanken befreien konnte. Alle diese Menschen wollten etwas Gutes für die Person und haben nach diesen Idealen gehandelt. Doch ist dies der grosse Unterschied? Bei einem natürlichen Tod im hohen Alter würde schliesslich niemand sagen, er habe die Schuld daran. Ich selbst bin zwiegespalten. Einerseits ist dies ganz klar ein Unterschied zwischen den beiden Situationen. Andererseits bin ich wie gesagt der Ansicht, dass in keinem der beiden Fällen jemanden eine Schuld am Tod trifft.

    Ein natürlicher Tod tritt ein, wenn der biologische Körper nicht mehr leben kann. Ein Suizid hingegen ist vom Kopf oder Geist bestimmt. Ein Suizid ist eine Entscheidung, welche der Mensch trifft, der natürliche Tod hingegen wird von der Biologie bestimmt. Ist es das, was es ausmacht? Die bewusste Entscheidung im Gegensatz zum unumgänglichen biologischen Ende? Mit einer Entscheidung geht immer einher, dass die präferierte Option  für die Person, die entscheidet, gewählt wird. In unserer Gesellschaft wird der Tod jedoch als schlimm wahrgenommen, als etwas, das verhindert werden sollte oder zumindest nicht angestrebt. Dass sich jemand zu Suizid entscheidet zeigt aber genau das, dass diese Person den Tod gegenüber dem Leben präferierte. Ein natürlicher Tod hat keine solche Implikation. Der Körper fällt keine Entscheidung, dass die Organe versagen. Der Körper stirbt weil es biologisch nicht möglich ist, weiter zu leben. In diesem Sinne sind sich die beiden Tode wieder ähnlich; es ist nicht mehr möglich, weiter zu leben. Die Instanz, welche diese Grenze setzt, ist jedoch eine andere.

    Ich weiss nicht, ob eine der Fragen, die mich hier beschäftigt haben, die Antwort bietet. Vermutlich ist es eine persönliche Kombination aus diesen Faktoren und vielleicht einigen anderen. Eine gewisse subjektive Komponente spielt bestimmt eine Rolle, da Gefühle etwas sehr Individuelles sind. Ich bin der Meinung, dass ein Suizid nicht ein Aufgeben oder eine Schwäche zeigt und daher auch kein Versagen oder Schuld der Angehörigen. Und gleichzeitig ist es doch eine sehr einschneidende und gleichzeitig andere Erfahrung als bei einem natürlichen Tod im eigenen Umfeld.


    Quellen:

    bag Schweiz. “Wie es zu Suiziden kommt.” Bundesamt für Gesundheit, 17 March 2022, https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/aktionsplan-suizidpraevention/suizide-und-suizidversuche/wie-es-zu-suiziden-kommt.html. Accessed 29 October 2023.

    bfs Schweiz. “Weniger als 1000 Suizide im Jahr 2020 - Langjährige Tendenz weiter sinkend - Suizide im Jahr 2020 | Medienmitteilung | Bundesamt für Statistik.” Bundesamt für Statistik, 3 October 2022, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.23446122.html. Accessed 29 October 2023.