Die höchste aller Freiheiten

Die Freiheit der Erkenntnis

Die Freiheit der Erkenntnis, ungeschrieben und unausgesprochen, ist die höchste Freiheit. Denn wenn die Realität vorgeschrieben werden kann, so hat auch keine andere Freiheit noch einen Sinn.

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    «Faktenresistent», «realitätsfern», «postfaktisch», das sind einige der Neologismen, welche in jüngeren Jahren Gebrauch gesehen haben, um all die zu beschreiben, die gewisse vermeintliche Tatsachen nicht akzeptieren wollten. Es folgt einem breiteren Phänomen unserer Zeit, worin gewisse Sachverhalte vereinfacht und emotional angenehm gehandhabt werden, die allerdings zu kuriosen Auswüchsen führen, wenn man sie zu Ende denkt. Es scheint, je mehr die Gesamtheit unserer Erkenntnisse wächst, umso mehr flüchtet man in ein Denken, welches nicht über Ansätze hinaus geht.

    So scheint es aufs erste doch sehr leicht: Wer offensichtliche Tatsachen leugnet, der ist dumm, bösartig, oder beides. Ein Film von vor wenigen Jahren bringt diese Auffassung auf den Punkt: Ein Meteor rast auf die Erde zu, und alle Entscheidungsträger oder sonstigen einflussreichen Persönlichkeiten leugnen das aus unterschiedlichsten Gründen. Doch diese Erzählung zeigt genau den Trugschluss: Die vermeintlich unbestreitbare Tatsache.

    Bei diesen ganzen Diskussionen geht jede Seite grundsätzlich davon aus, eine jeweilige unbestreitbare Tatsache zu kennen, etwas das so offensichtlich ist, wie dass der Himmel blau und dass zwei und zwei vier sind. Doch nicht alles ist immer so einfach. Je komplexer die Thematik, umso mehr Nuancen oder unklare oder unbekannte Faktoren gibt es, welche eine annähernd definitive Erkenntnis erschweren. Wie oft nun haben wir in letzter Zeit gehört, dass der «Wissensstand» sich verändert habe? Dies wird immerzu als bequeme Ausrede verwendet, nachdem man sich dogmatisch in einer Ansicht verrannt hatte, und sich diese dann als falsch herausstellte. Die Lektion, dass man dann eben nicht dogmatisch auf einer Ansicht beharren sollte, als sei dies eine absolute Wahrheit, fehlt dabei vollends. Nie hat jemand schon im Vornherein gesagt, das sei halt nur der derzeitige Wissensstand. Es ist ja auch mühsam, von der Position einer Annahme, statt einer absoluten Wahrheit zu diskutieren.

    Die Forderung, Falschinformationen zu unterbinden erscheint derzeit immer wieder, auch ein solcher Einfall, welcher nicht zu Ende gedacht wird. Denkt man es auch nur einen Schritt weiter, so ist die logische Konsequenz, dass es dann eine Autorität geben muss, welche das letzte Wort darüber hat, was nun richtig ist und was falsch. Also ein Wahrheitsministerium. Und was, wenn dieses sich einstmals irren würde, weil es eben auf einem veralteten Wissensstand beharrte? Dann wäre das Aussprechen der Wahrheit folglich untersagt. Und wenn der Wissensstand sich immer wieder ändern kann, wie man nun so gern kleinlaut sagt, wie kann sich dieses Wahrheitsministerium überhaupt anmassen, eine Behauptung zu unterbinden? Es ist eine einfache, logische Überlegung, welche diese «Apostel der Wahrheit», welche sich immerzu über vermeintliche Falschinformationen empören, fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

    Was ist dann die Lösung, würden diese vermutlich fragen, einfach zulassen, dass jeder jeglichen Blödsinn erzählt und damit die Leute in die Irre führt? Erneut, denken wir diese Behauptung zu Ende: Heisst das etwa, man meint die Mehrheit so dumm, dass sie jeden Blödsinn, den sie liest, glauben wird, ohne zu hinterfragen? Wie kann diese Mehrheit dann wissen, dass das, was die mutmasslich seriösen Quellen sagen, tatsächlich auch stimmt, wenn sie doch sowieso nur unkritisch glauben, was sie lesen? Und, vor allem, ist das Weltbild dieser Leute das einer Masse an Trotteln, welche durch die Realität geführt werden müssen, als seien sie blind?

    «Ich weiss nur, dass ich nichts weiss», ist die bekannte Paraphrase von Sokrates’ Erkenntnis, dass man nichts endgültig wissen kann, ausser eben, dass man nichts weiss. So lange wir kein Orakel von Delphi oder sonstige übermenschliche Quelle einer absoluten Wahrheit haben, kommen wir nicht drum herum, zu akzeptieren, dass keine Erkenntnis, zumindest keine komplexe Erkenntnis, vollkommen ist, sondern nur einem, letztlich subjektiven, Spektrum von Plausibilität zugeordnet werden kann.

    Es ist dabei enorm wichtig, dass der Unterschied zwischen Realität und Erkenntnis verstanden wird. Die Realität, so nehmen wir an, ist was sie ist, absolut und unnachgiebig. Erkenntnis ist das, was wir Menschen über unsere Wahrnehmung sowie über Methoden wie die Wissenschaft von dieser Realität erfahren können. Die Realität mag absolut sein, die Erkenntnis ist es demnach nicht. Sie ist begrenzt durch unsere Sinne und unsere Methoden der Erkenntnisgewinnung welche, je komplexer der Sachverhalt, umso unzuverlässiger sind. Man muss sich immerzu vor Augen führen, dass selbst bei der scheinbar gefestigtsten Erkenntnis immer die Möglichkeit besteht, so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sie auch sein möge, dass sie falsch wäre.

    Entsprechend muss man auch akzeptieren, dass es kein Anrecht darauf geben kann, anderen eine Erkenntnis aufzuzwingen. Es kann nur jedem Menschen selbst zustehen, eine Erkenntnis anzuerkennen oder nicht. Die Freiheit der Erkenntnis ist die oberste Freiheit, denn sie macht den Menschen erst zu einem mündigen Individuum mit der Entscheidungsmacht darüber, was er nun als Wahrheit anerkennen möchte und was nicht.

    Um dies tatsächlich zu verstehen, muss man sich das Gegenbeispiel vor Augen führen: Ohne diese Freiheit wäre die Wahrheit von einer Autorität vorzugeben und zu definieren, und könnte das Individuum auf jede nur erdenkliche Weise erdrücken. Ob einstmals die Wahrheit gelte, dass jemandes Leben eine Last ist und beendet gehört, so läge dies in den Händen des Trägers dieser Wahrheit. Ohne die Freiheit der Erkenntnis ist jegliche sonstige Freiheit völlig bedeutungslos.

    Der Gedanke dieser Freiheit der Erkenntnis wirkt für viele inzwischen sehr verstörend, was ein durchaus besorgniserregendes Phänomen ist, wie das vorangehende Beispiel aufzeigt. So sehr ist man Ersatzreligionen wie z.B. dem Szientifismus verschrieben, dass man die universell auferlegte Akzeptanz eines Dogmas braucht, damit die Geltungshoheit der Ersatzreligion erhalten bleibe. Dahinter verbirgt sich eine der wohl grössten Urängste des Menschen: Die Angst vor dem Unwissen, die Angst vor dem Unbekannten.

    Wenn jemand mit grossem Fachwissen etwas behauptet, und noch jemand mit ebenfalls hohem Fachwissen dem beipflichtet, kann ein Individuum trotzdem nie endgültig wissen, ob man ihm die Wahrheit sagt oder nicht. Selbst wenn drei, vier, fünf oder tausend andere dem Beipflichten, muss trotzdem das Individuum für sich selbst entscheiden, ob es die Erkenntnis annehmen möchte oder nicht. Denn sonst müsste das Individuum zuerst eine absolute Gewissheit haben, dass diese tausend anderen nicht lügen und nicht irren. Wenn es auch sonst nichts gibt, was man endgültig wissen kann, dann auch das nicht, so unwahrscheinlich es auch sein möge.

    Es mag wiederum sein, dass eine Gesellschaft (und erst recht eine Zivilisation) eine gemeinsame Ebene der Erkenntnis braucht, um sich zu verstehen, wie sie auch eine gemeinsame Sprache braucht, um sich zu verständigen. Diese Ebene muss sich unweigerlich irgendwo in einem Mittelpunkt der verschiedenen Erkenntnisstände der Individuen, welche die Gesellschaft bilden, treffen, wenn der Zusammenhalt der Gesellschaft bewahrt werden soll. Ein inzwischen auch schon anstössiger Gedanke, da er zu fordern scheint, dass man nicht Fakten und Wahrheit Folge leistet, sondern subjektiven Ansichten. Doch ebenso wie Realität nicht gleich Erkenntnis ist, ist Erkenntnis nicht gleich Realität. Und letztendlich setzt sich eine Gesellschaft nicht durch Wahrheit oder Fakten zusammen, sondern durch die Individuen und ihre jeweiligen Erkenntnisstände. Keine Wahrheit und kein Fakt der Welt liesse sich entgegen der Erkenntnis widerspenstiger Geister durchsetzen.

    Es geht also nicht darum, ob Fakten oder gar die Realität in Frage gestellt, sondern um einen viel metaphysischeren Ansatz: dass niemand das Recht hat, sich anzumassen, diese Fakten und Realität auf einer Ebene zu kennen, die alle anderen Erkenntnisse transzendiert, und deshalb legitimiert wäre darin, sie anderen Individuen zu diktieren. Denn selbst wenn dem so wäre, so könnte auch nichts den anderen Individuen garantieren, dass wer diese Macht besässe auch ehrlich in ihren Absichten und Treu den Tatsachen agiere.

    Es gibt keine mögliche Gewaltenteilung oder sonstige Absicherung, welche auf eine diktierte Realität einwirken könnte, weil diese Realität bereits durch ihre Kondition als Realität als absolut und vollkommen gelten würde.

    Aus diesem Grund existiert auch kein möglicher Mittelpunkt zwischen der Freiheit der Erkenntnis und dem Dogma, entweder man darf selbst entscheiden, was man als Erkenntnis annimmt; oder man darf das nicht, und dann würde es von einem anderen Individuum vorgeschrieben gemäss Kriterien, die nur dieses Individuum tatsächlich kennt, und ohne die Möglichkeit, legitim angezweifelt zu werden, was auch die Dialektik im Keim ersticken würde. Die Freiheit der Erkenntnis nicht anzuerkennen ist gleichbedeutend damit, den Menschen ihre Mündigkeit und ihre Kondition als Individuen abzuerkennen.

    Ein Prozess von Wahrheitsfindung kann nur geschehen, wenn sowohl auf kollektiver wie auch individueller Ebene die verfügbaren Informationen kontinuierlich rational (z.B. dialektisch) erwägt werden, immerzu mit dem Bewusstsein darüber, dass keine komplexe Erkenntnis jemals als absolut gelten wird. Nur so ist zu erwarten, dass die Gesellschaft sich gradual auf eine halbwegs einheitliche Realität einigen kann, welche auch den Individuen innewohnt, anstatt aufgezwungen zu werden. Dieser Vorgang ist zweifelsohne aufwendiger als das das Dogma, und erfordert grösseren Mut in der Gesellschaft, abweichende Erkenntnisse zu dulden, wenngleich sie nicht geteilt werden. Auch deshalb finden sich viele, welche die feige Bequemlichkeit des Dogmas vorziehen, vor allem natürlich, wenn dieses mit ihren eigenen Ansichten übereinstimmt.

    Die schleichende Aufhebung der Freiheit der Erkenntnis, eine ungeschriebene, unausgesprochene Freiheit, ist heimtückisch, da sie im Namen einer vermeintlichen Sachlichkeit geschieht, hinter welcher sich allerdings nichts anderes als Dogmatismus verbirgt. Unser Umgang mit der Realität kann nur über unsere Kapazität der Erkenntnis stattfinden, somit muss diese immerzu als Rahmen für jegliche Erkenntnis von Realität gelten. Ohne die Freiheit der Erkenntnis wird die elementarste Essenz dessen, was uns zu mündigen Individuen macht letztlich untergraben, und die grundlegendsten, wesentlichsten Werte einer aufgeklärten Gesellschaft ausgelöscht.