Irdische Höllen und bestialische Menschen Das Böse, die Grausamkeit & die Neigung zur Projektion

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    (1) Brauchen wir die Kategorie des Bösen?

    Jede von uns wird, nach kürzerem oder längerem Nachdenken, Taten von Menschen angeben können, die so entsetzlich, so unbegreiflich, so abstoßend sind, dass allenfalls ihre Kategorisierung als „böse“ geeignet scheint, den Grad ihrer moralischen Schlechtigkeit angemessen zu benennen. Für nicht wenige von uns, so ist zumindest zu hoffen, sind die verdammenswerten Exzesse der Hamas und ihrer Unterstützer am 7. Oktober 2023 in Israel Beispiele solcher Taten. Andere Fälle wären die Vergewaltigung oder Ermordung von Säuglingen oder die ebenso zahlreichen wie vielgestaltigen Entmenschlichungen in Straflagern und Kolonien, Umerziehungsheimen und Gefängnissen.

    Diese Taten scheinen nicht nur graduell, sondern kategorisch verschieden zu sein von anderen, ebenfalls unmoralischen Handlungen. Denn auch der Diebstahl eines Gemäldes oder die Beschimpfung eines Verkäufers im Supermarkt sind moralisch schlecht, aber sie sind nicht böse. Bei ihnen scheint die verständliche Reaktion auf das Böse, die Hannah Arendt festgehalten hat, nämlich die Aussage: „Dies hätte nie geschehen dürfen.“ [1] 

    , unangemessen zu sein. Schließlich werden zwar auch bei Diebstahl und Beschimpfungen moralische Normen verletzt, aber die Verletzung ist nicht einmal ansatzweise so schwer, so zerstörerisch und so grenzenlos, wie im Falle der grausamen Folter oder Ermordung Unschuldiger und Wehrloser.

    Sicherlich, hier stehen sofort zahlreiche Fragen im Raum. Es ist ja gar nicht unmittelbar klar, wo eigentlich die Grenzen zwischen (noch) nicht „bösen“ und „bösen“ Handlungen verläuft; und warum sie so, aber nicht anders zu ziehen ist. Aber prima facie leuchtet es doch ein, dass „das Böse“ als Kategorie für in besonderem Maße moralisch schlechte Handlungen (oder Strukturen wie etwa die Sklaverei) unverzichtbar ist. Eben weil Massenvergewaltigungen und öffentliche Demütigungen von Menschen nicht einfach ‚nur‘ „moralisch schlecht“ sind.

    (2) Der doppelte Teufel: Probleme mit „dem Bösen“

    Der Begriff des Bösen bringt allerdings auch einige Probleme mit sich, die in nicht geringem Maße damit zu tun haben, dass er so, wie wir ihn auch heute noch – innerhalb wie außerhalb philosophischer Debatten – gebrauchen, nicht ohne ‚theologisches Gepäck‘ zu haben ist. Dieses ‚Gepäck‘ ist in erster Linie eine in seinem Gebrauch sedimentierte Bedeutung als „das Andere“, das die Grenzen dessen sprengt, was wir als „menschlich“ oder als „zur menschlichen Natur“ gehörig anzuerkennen bereit sind. Das wird nicht nur an den mit „dem Bösen“ verbundenen verwandten Begriffen, sondern auch an der mit ihm assoziierten Bildsprache deutlich – in beiden Fällen trifft man schnell auf Teufel, Bestien, Dämonen, Monstren, Unmenschen und dergleichen.

    Nimmt man aber den Leibhaftigen persönlich oder einen seiner niederen Schergen als Musterbeispiele für „das Böse“, dann wird dieses Böse schnell zu einer Art Phänomen sui generis hypostasiert, das den Rahmen menschlicher Maßstäbe und Verhaltensweisen letztlich vollkommen verlässt. Es ist eben ‚das ganz Andere‘, dasjenige, dem wir wirklich fassungslos, ohne Verständnis und ohne passende Worte gegenüberstehen. So hat man lange Zeit von jemandem, der Böses tut, gesagt, dass „der Teufel ihm die Finger geführt hat“. Ganz so, als wäre er kein Täter, sondern eine Puppe, gesteuert und bewegt von einem maliziösen Spieler – weil anders nicht zu begreifen ist, wie er hat tun können, was er getan hat. Wenn etwa Terry Eagleton das Böse als „metaphysische Haltung“ definiert, die allein Tod und Zerstörung um ihrer selbst willen zum Ziel hat, [2] dann wundert es nicht, dass er diesen destruktiven Nihilismus vor allem bei literarischen Figuren wie Miltons Lucifer oder Shakespeares Jago meint finden zu können, [3] aber kaum in unserer realen Welt. Und wo er es dann doch auf reelle Menschen wie Adolf Eichmann oder religiöse Fundamentalisten bezieht, [4] 

    da fragt man sich unwillkürlich, ob ihre Taten eigentlich (in seinem Sinne) wirklich „böse“ sind – schließlich sind sie, bei allem Hass, ja rekonstruierbar anhand der Motive, Gründe und Überzeugungen der Täter. Selbst wenn man etwa Adolf Eichmanns Selbstinszenierung nicht wie seinerzeit Hannah Arendt [5] auf den Leim geht: man wird ihm verstehbare Gründe für sein Handeln zuschreiben, auch wenn es nicht eine zur Fratze entstellte Beamtenmentalität, sondern ein fanatischer und eliminatorischer Judenhass war, der seine abscheulichen Verbrechen motivierte. [6] Nur: Es ging ihm, wie den anderen Nazi-Verbrechern und ihren Millionen von Unterstützern, nicht um eine diffuse ‚Zerstörung um der Zerstörung willen‘ – sondern ganz konkret um die endgültige Vernichtung des Judentums durch die Ermordung aller Jüdinnen und Juden und die Zerstörung aller Zeugnisse jüdischen Lebens. [7] 

    die Ermordung aller Jüdinnen und Juden und die Zerstörung aller Zeugnisse jüdischen Lebens.1 Der Rest der Welt, insbesondere das „Dritte Reich“, sollte durchaus bestehen bleiben.

    Gerade deshalb scheint die Rede vom Bösen ja problematisch: Sie fördert unsere ohnehin starke Neigung, schwere Verletzungen unserer Moral als so etwas wie einen direkten Eingriff des Teufels oder einer anderen nicht-menschlichen Macht in den Weltenlauf einzuordnen – und es damit möglichst weit weg von uns und unseren eigenen Neigungen, Überzeugungen, Motiven und Gewohnheiten zu platzieren. Jean-Claude Wolfs feuilletonistisches Aperçu: „Aus Berichten von Kriegen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist zu entnehmen, dass das Diabolische mitgewirkt hat.“ [8] ist, so gesehen, bezeichnender für unsere Rede vom Bösen, als dem eigentlich ja um Klärung bemühten Autor vielleicht bewusst ist.

     

    3) Das reale Böse: Grausamkeit

    Das Problem der Mystifizierung des Bösen zu einer hintergründigen, über- oder vielleicht besser ‚unternatürlichen‘ Macht lässt sich vielleicht umgehen, wenn die Überlegungen nicht von literarischen Unholden, sondern von jenen reellen Taten ausgehen, die wir tatsächlich als „böse“ einordnen und verurteilen. Wobei sich vor allem eine Gruppe von Handlungen anbietet: grausame Taten.

    Neben Völker- und Massenmorden dürften Grausamkeiten sicherlich unter den ersten Beispielen sein, die den meisten von uns einfallen, wenn man uns nach „dem Bösen“ fragt. Tierquälerei, sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige, öffentliche Demütigungen, Folter – Handlungen und Unterlassungen, die ein Lebewesen in unverhältnismäßiger und nicht zu rechtfertigender Weise leiden lassen.[9] 

    Und genau hierin scheint auch einer der entscheidenden Unterschiede zwischen „bösen“ und anderen moralisch schlechten Taten zu liegen: dass bei bösen Handlungen jeder Versuch der rechtfertigenden, entschuldigenden oder wenigstens erklärenden Rationalisierung fehlschlägt, der bei ‚nur‘ moralisch schlechten Handlungen im Regelfall gelingt. Dass sich, mit anderen Worten, nichts benennen lässt, was solches Handeln in irgendeiner Form nachvollziehbar und verständlich macht, ohne blankem Zynismus oder kaum verhohlener Verachtung der Opfer (oder der Täter) zu entspringen.

    Dieser Begriff der Grausamkeit hat zudem den Vorteil, dass er konkrete Merkmale benennt, wo die Bezeichnung als „böse“ erst einmal nur ein deutliches Werturteil fällt. Die Bezeichnung als „grausam“ sagt ja nicht allein: „Das ist sehr, sehr unmoralisch!“ Sie enthält zugleich eine – nachprüfbare – Begründung für dieses Urteil: „ … weil es Lebewesen unverhältnismäßiges Leid zufügt!“ Damit lassen sich nicht nur etwaige Vorwürfe der Grausamkeit kritisieren. Man kann nun prinzipiell auch die Frage stellen (und beantworten), ob nicht auch Praktiken und Gewohnheiten, die wir für unproblematisch oder allenfalls für moralisch ‚nicht ganz in Ordnung‘ halten, nicht tatsächlich „grausam“ und damit in keiner Weise zu rechtfertigen sind.

    Judith Shklar hat zum Beispiel deutlich gemacht, dass nicht nur Folter, sondern auch ganz alltägliche Demütigungen und entwürdigende Behandlungen „grausam“ sind. [10] Dinge also, die wir oft unreflektiert und ohne große Boshaftigkeit tun, was nicht von ungefähr an Hannah Arendts Formel von der „Banalität des Bösen“ [11] erinnert. Umgekehrt hat Philip Hallie die Sklaverei mit guten Gründen als „institutionelle Grausamkeit“ [12] charakterisiert. Schließlich sei es der Kern der Grausamkeit, „Lebensformen [zu] vernichten“ [13] , und wie lasse sich das effektiver erreichen als durch eine mittels vollständiger Fremdbestimmung und konsequent entmenschlichender Behandlung erreichte „Zerstörung jener Verhaltensmuster, die für gewöhnlich die Lebensform des Opfers bestimmten.“ [14] Das wiederum erinnert nicht von ungefähr an Eagletons These, dass „most forms of wickedness are built into our social systems“ [15] und damit an die Vernichtung von Menschen nicht allein in Todeslagern und Folterkellern, sondern auch in Umerziehungsheimen und Sektenlagern, in Sklaverei und systemischer Unterdrückung und Ausbeutung. [16] 

    Nimmt man anstelle Luzifers also die Grausamkeit als paradigmatischen Fall des Bösen, dann, so scheint es zumindest, wird dieser Begriff in doppelter Weise geerdet: Einerseits werden nun konkrete Merkmale benannt, deren Vorliegen überprüft und hinterfragt werden kann, ohne doch die maximal pejorative Konnotation als ‚absolut unmoralisch‘ aufgeben zu müssen. Und andererseits liegt es bei der Grausamkeit schon sprachlich deutlich weniger nahe, sie als sinistren metaphysischen Akteur zu verklären und sie so dem Menschlich-Allzumenschlichen zu entziehen.

     

    (4) Pathologisierung und Exotisierung: „Grausamkeit“ als Bannwort [17]

    Warum also nicht einfach gleich von „Grausamkeit“ statt von „dem Bösen“ reden, wenn sich so die eingangs benannten Probleme anscheinend umgehen lassen? Nun, zum einen heißt, dass Grausamkeiten immer auch „böse“ sind, ja nicht, dass allein sie „böse“ sind. Selbst wenn alle grausamen Handlungen eo ipso böse sind, so können auch Taten „böse“ sein, die nicht „grausam“ sind. Ein Beispiel wäre jemand, der wissentlich eine Entscheidung trifft, die mehrere Hundert Menschen ins Elend stürzt, ohne dass er dazu gezwungen wäre. Er könnte zum Beispiel absichtlich und ohne Not einen größeren mittelständischen Betrieb ruinieren in dem Wissen um die desaströsen Folgen für die Mitarbeiterinnen. Vielleicht bringt ihm das eine beträchtliche Summe ein oder freut er sich sogar darüber. Beides ist indes nicht zwingend notwendig, damit sein Verhalten als „böse“ bezeichnet werden kann.

    Gegen eine einfache Ersetzung von „das Böse“ durch „Grausamkeit“ bzw. von „böse“ durch „grausam“ spricht zum anderen, dass bei genauer Betrachtung bei „Grausamkeit“ ein ähnliches Problem auftritt wie bei „dem Bösen“: dasothering der Täterinnen. Dieses Beschreiben und Inszenieren von Grausamkeit als dem ‚ganz Anderen‘, das sich, wie beim Begriff des Bösen, in dem zugehörigen Wortfeld zeigt, hat eine lange Tradition. Es findet sich schon in der Antike, wo man statt von „Grausamkeit“ meist von „(tierischer) Rohheit“ oder „Wildheit“ sprach, [18]  aber es ist auch uns Menschen des 21. Jahrhunderts alles andere als fremd.

    Wir reden ja nur selten von „grausamen Menschen“, aber umso öfter von „Bestien“, „Monstren“ und „Unmenschen“; und wir sprechen nicht nur von „grausamen Handlungen“, sondern auch – und häufiger – von „kranken“, „abartigen“ oder „perversen“ Taten. Die Täter sind, so scheint es, eigentlich keine Menschen mehr; was sie tun, ist so weit entfernt von allem ‚normalen‘ menschlichen Verhalten, dass sie im Grunde Tiere sind. Eigentlich sogar Schlimmeres. Auch greifen wir schnell auf Krankheiten oder Störungen als (oft bloß vermeintliche) Erklärungen für dieses Verhalten zurück, kurz: wir pathologisieren Grausamkeit.

    Oder wir exotisieren sie und führen sie zurück auf Traditionen, Riten oder Überzeugungen, die sich bei uns (angeblich) nicht finden, wohl aber bei anderen Gruppen. Wobei es dann selbstredend ein Zeichen kollektiver Degeneration und Verrohung dieser Gruppen ist, dass sie solche Sitten besitzen. So verweist Aristoteles bei seiner Diskussion des Kannibalismus, den er als „tierische Rohheit“ anderen Grausamkeiten an die Seite stellt, auf „einige der wild lebenden Stämme rund um das Schwarze Meer“, von denen „man sagt, dass einige von ihnen rohes Fleisch oder Menschenfleisch essen oder dass sie sich gegenseitig ihre Kinder zum Verspeisen geben“ [19]

    Wir wissen also anscheinend sehr gut, was „Grausamkeit“ ist, und ebenso, dass sie in einem Maße verwerflich ist, das eigentlich eine Null-Toleranz zur Folge haben sollte. Aber wenn sie dann doch auftaucht (und nicht geleugnet werden kann), dann schieben wir sie vielleicht nicht dem Teufel in die Schuhe; aber stattdessen machen wir entweder Krankheiten oder ‚fremde‘ Praktiken und Überzeugungen für sie verantwortlich. Mit anderen Worten: Wir projizieren Grausamkeiten auf Gruppen, die wir als von uns klar und grundsätzlich unterschieden konstruieren – sei es nun aufgrund vermeintlicher Krankheiten oder aufgrund angeblich grundlegend anderer Gewohnheiten und Überzeugungen.

    So oder so: Die infrage stehende Grausamkeit soll nichts zu tun haben mit dem, das wir für gewöhnlich, normal, gebräuchlich, angemessen oder unproblematisch halten. Dass die von Hallie zurecht scharf kritisierte Sklaverei eine der vielen unrühmlichen – und vor allem unrühmlich lange beibehaltenen und verteidigten – grausamen Traditionen von unsist, sollte uns allerdings, vorsichtig formuliert, einen gesunden Skeptizismus bezüglich derlei Behauptungen empfehlen.

     

    (5) Die Reichhaltigkeit unseres moralischen Vokabulars und die Verzichtbarkeit des „Bösen“

    Offenkundig ist also auch der Begriff der Grausamkeit nicht so klar, eindeutig und immun gegen Missbrauch, wie es nicht nur Philosophinnen gerne hätten. Aber da wir für „Grausamkeit“ feststellbare und überprüfbare Merkmale angeben können, lässt sich nicht nur ein etwaiger Missbrauch aufdecken und kritisieren. Auch pathologisierende oder exotisierende Projektionen können auf diese Weise desavouiert werden, wie umgekehrt tatsächlich grausame, von uns aber als „normal“, „gebräuchlich“ oder „nicht so schlimm“ bagatellisierte Praktiken kritisiert werden können.

    Insofern ist der Begriff der Grausamkeit nicht nur hilfreich, sondern sogar unverzichtbar für eine Praxis differenzierten moralischen Urteilens, wie sie jeder Gesellschaft gut zu Gesicht steht, die sich gern ebenso lautstark wie selbstlobend als „zivilisiert“ und „aufgeklärt“ etikettiert. Schließlich ist es nicht nur für die moralische Bewertung, sondern auch für unseren Umgang mit (tradierten) Praktiken und ihren Anhängerinnen entscheidend, ob wir sie als „grausam“ oder zum Beispiel stattdessen als „gewaltsam“, „verletzend“, „kränkend“ oder „diskriminierend“ beurteilen – obwohl, oder vielleicht: gerade weil wir sie in allen diesen Fällen als „moralisch schlecht“, aber eben nicht als „in gleichem Maße moralisch schlecht“ einordnen.

    Und für den Begriff des Bösen scheint diese Unverzichtbarkeit nicht gleichermaßen zu gelten, wie auch nicht zu sehen ist, inwiefern er vergleichbare Differenzierungen erlaubt.

    Aber was ist mit der einleitend erwähnten starken Intuition, dass „böse“ die dringend benötigte Funktion erfüllt, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen moralisch schlechten und absolut verwerflichen Handlungen sprachlich eindeutig zu markieren?

    Nun, schon die Unterscheidung von „moralisch schlecht“ und „absolut verwerflich“ deutet darauf hin, dass wir hier über Alternativen verfügen. Tatsächlich ist unser moralisches Vokabular, zumindest jenseits mancher fachphilosophischen Nomenklaturen, äußerst vielfältig und erlaubt eine Vielzahl von Differenzierungen. Handlungen, Gewohnheiten und Praktiken können nicht nur „schlecht“ sein, sondern auch „schlimm“, „abstoßend“, „unanständig“, „verwerflich“, „grauenhaft“ oder „verachtenswert“. Diese Liste ließe sich erweitern, zumal schon die genannten Adjektive auf verschiedene Weisen adverbial ergänzt und modifiziert werden können („einigermaßen“, „absolut“, „ein wenig“, „vollkommen“, „besonders“, „irgendwie“ …), von der präzisen Benennung der Art der moralischen Schlechtigkeit („unehrlich“, „betrügerisch“, „ehrabschneidend“ …) ganz zu schweigen. Und dann gibt es noch all die „dichten“ [20] oder „essentiell umstrittenen“ [21] 

    , das heißt zugleich beschreibenden und wertenden Begriffe wie „Gewalt“, „Höflichkeit“, „Brutalität“, „Zurückhaltung“ und dergleichen mehr, mit denen wir unsere Lebenswelt moralisch kartographieren.

    Unser moralisches Vokabular gibt uns, anders gesagt, zahlreiche Möglichkeiten, absolut verwerfliche Handlungen als solche zu benennen und sie damit klar – und differenziert – von jenen moralisch schlechten Taten zu unterscheiden, die unseres Erachtens keine vergleichbar schwere Anklage und Sanktionierung rechtfertigen (oder verdienen). Und der absoluten Mehrheit von ihnen ist gemein, dass sie uns nicht in gleichem Maße wie „das Böse“ dazu verleiten, die mit ihnen bezeichneten Taten und Täterinnen zu ‚dem ganz Anderen‘ zu stilisieren.

    Sicherlich, auch dieses vielfältige moralische Vokabular ist in vielerlei Hinsicht defizitär. Viele der Begriffe sind deutlich weniger klar definiert, als die Philosophin es sich wünschen würde, und zudem sind in ihnen häufig kontingente moralische Überzeugungen sedimentiert, die einer gründlichen philosophischen Kritik oft nur in Teilen standhalten dürften. Und der Hang zur Projektion findet leider immer wieder neue Wege, sich Geltung zu verschaffen.

    Aber mit der Rede von „dem Bösen“ wären wir wenigstens einigen theologischen Ballast und vor allem eine Steilvorlage für die Mystifizierung menschlicher-allzumenschlicher Unmoral los. Es wäre immerhin ein Anfang.

     

     

     

    [1] Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, hg. von Jerome Kohn, München / Zürich 2009, S. 45.

    [2] Terry Eagleton, On Evil, Hew Haven / London 2010, S. 16–8.

    [3] Ebd., S. 19–79.

    [4] Ebd., S. 86–7, 119.

    [5] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, London 2006.

    [6] Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Reinbek bei Hamburg 2014.

    [7] Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt (Main) 1991.

    [8] Jean-Claude Wolf, Das Böse, Berlin / Boston 2011, S. 7.

    [9] Verf., „Grausamkeit“ als essentiell umstrittener Begriff, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 73 (2019), 4, S. 550–570, hier: S. 564.

    [10] Judith Shklar, Ganz normale Last, Berlin 2014, S. 47–8.

    [11] Arendt, Über das Böse, S. 150.

    [12] Philip P. Hallie, Grausamkeit. Der Peiniger und sein Opfer. Eine Analyse, Freiburg i.Br. 1971, S. 117–9, 130, 162–5.

    [13] Ebd., S. 71.

    [14] Ebd. Vgl. auch Philip P. Hallie, From Cruelty to Goodness, in: The Hastings Center Report 11 (1981), 3, S. 23–8.

    [15] Eagleton, On Evil, S. 144.

    [16] Siehe hierzu auch Verf., VII 20. Jahrhundert, in: Dietrich Schotte (Hg.), Grausamkeit. Philosophische Positionen von der Antike bis in die Gegenwart. Mit einem einleitenden Essay und einem Überblick zur Diskussion im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2023, S. 201–35, hier: S. 210–17. (Dieser Band ist OpenAccess erschienen und über verschiedene Plattformen kostenfrei als E-Book abrufbar.)

    [17] Vgl. zum Folgenden Verf., Im Angesicht der Bestie – Grausamkeit als Problem der Philosophie, in: Schotte (Hg.), Grausamkeit, S. 11–31, besonders S. 23–8.

    [18] Winfried Schröder, Art. „Wildheit; Grausamkeit; Rohheit“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1977ff., Bd. 12, Sp. 755–63

    [19] Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 229 (1148b).

    [20] Bernard Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999, S. 197–203.

    [21] Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), S. 167–98.