Peter Schaber, in einem äussert hörenswerten Podcast in der "Hinterfragt" Reihe, argumentiert, dass in der heutigen Praxis Angehörige zuviel Entscheidungsspielraum bezüglich der Organentnahme haben. Das mag sein. Mir erscheint es jedoch vertretbar, Erben (nicht nur Angehörige, sondern auch testamentarisch auserwählte) ein Mitspracherecht, vielleicht sogar eine Verfügungsgewalt zuzusprechen. Der Grund dafür ist, dass es mir vertretbar erscheint, die Leiche, den toten Körper der verstorbenen Person, dem Erbe zuzurechnen. Erbschaften im allgemeinen sollte ausgeschlagen werden können, und in solchen Fällen sollte die Leiche ein öffentlich bezahltes Begräbnis erhalten und die Organe sollten entnommen werden können, unabhängig vom festgestellten oder mutmasslichen vergangenen Willen der verstorbenen Person. Wird das Erbe allerdings angetreten, sollte die Verpflichtung, ein bestimmten Mindestanforderungen genügendes Begräbnis zu organisieren, Teil davon sein.
Die Verfügungsgewalt über die Leiche geht in diesem Fall an die Erben über, die für das Begräbnis zu sorgen haben. Peter Schaber hat recht, dass überwiegende, in manchen Fällen vielleicht sogar absolut überwiegende Interessen für die Organspende sprechen und dass das Spenden von Organen, inklusive der häufig weniger beliebten wie der Augen, nicht nur löblich, sondern moralisch verpflichtend ist, ein Muss, nicht nur ein Dürfen. Er hat auch recht, der verstorbenen Person retroaktiv ein Vetorecht zuzuerkennen: wir leben in einer Gesellschaft, die (hoffentlich!) nur in äussersten Notfällen Menschen zu privaten Entscheidungen trifft, das Richtige zu tun, auch wenn das Richtige nicht nur gut, sondern auch moralisch zwingend ist.
Die Angehörigen erhalten allerdings bei ihm "short shrift": ihre Interessen, im Gegensatz zu den virtuellen, ehemaligen, oft hypothetischen "Interessen" der verstorbenen Person, sind gegenwärtig, ihre Rolle (bspw. beim Begräbnis, der Kremation, dem Andenken) real und wirkungsvoll. Traumata, Verletzung und Lebensqualitätseinbussen sind möglich, in manchen Fällen sogar wahrscheinlich: ein Kind könnte bspw. (irrationalerweise, aber so ist es eben) durch die Idee traumatisiert werden, in der Strasse von einem Unbekannten durch die Augen ihrer früh verstorbenen Mutter angekuckt zu werden...
In solchen Fällen finde ich es vertretbar, den Angehörigen das Recht zu geben, die Organspende auch bei einer expliiziten Zustimmung der verstorbenen Person abzulehnen - sie ist ja nicht mehr da, wird die Konsequenzen ihrer Entscheidung nicht erleben müssen. Dass wir alle, Sterbliche und Angehörige von Sterblichen, alle unsere Organe spenden sollten, damit bin ich mit Peter Schaber völlig einverstanden.
PS. Im Podcast werden auch mögich religiöse Einwände angesprochen. Als Ergänzung: Auch die, die im wörtlichsten, "orthodoxesten", "fundamentalistischen", "literalistischen" usw. - extremsten - Sinn an ein Leben nach dem Tod, eine Auferstehung, ein jüngstes Gericht, ein Paradies oder etwas Ähnliches glauben, haben meines Wissens nach noch nie behauptet, dass wir dieses zweite oder ewige Leben mit den numerisch identischen Organen antreten, die wir zum Todeszeitpunkt besassen. Dies würde für sehr viele Menschen das zweite Leben entscheidend entwerten (auch die Verträglichkeit einer solchen Verfügung mit der Allgüte der Gottheit wäre ein sehr heikles Thema...). Selbstverständlich leben wir ein zweites Leben, falls wir ein solches haben sollten, mit verbesserten Organen. Ob sie insgesamt verbessert sind oder relativ (bspw. zum Zustand, den sie hatten, als wir 20 waren, oder 15, falls wir früh zu rauchen angefangen haben, oder 25, falls wir mit 20 krank waren und gesund wurden...), ist schwierig zu sagen, was ich deshalb auch gerne den Theologen überlasse.