Es ist alles zweifelhaft außer der Philosophie. Nur sie ist gewiß. Man sollte deshalb denken, wenigstens die Philosophen haben einander verstanden. Aber ich sage Ihnen: Sie haben einander niemals verstanden! Sie haben nur geredet. (Jaspers zu Saner, sechs Tage vor seinem Tod)

Sterben müssen

Wie Hans Saner die letzten Monate von Karl Jaspers erlebte und biografische Anekdoten zu Krankheit, Tod und Suizid.

    Mit der Krankheit leben

    Am 26. Dezember 2017 stirbt in Basel mit 83 Jahren Hans Saner. Er war der letzte persönliche Assistent von Karl Jaspers (1883–1969). Während ihrer Zusammenarbeit (1962–1969) hat Saner Seiten an Jaspers entdeckt, die der Öffentlichkeit und auch ihm zunächst weitgehend verborgen geblieben waren. Als Student und noch in den ersten Jahren in den Diensten des Professors, erschien ihm Jaspers ernst, unnahbar, distanziert und kühl. Doch dann fielen ihm auch andere Seiten auf: „Allmählich wurde mir seine Heiterkeit sichtbar: sein freundliches, fast kindliches Lachen, die Freude an Scherz und Ironie“1, erinnert sich Saner. Auch sein Verständnis für die äußerst disziplinierte Lebensführung von Karl Jaspers kam erst nach und nach. „Allmählich auch wurde mir die schonende, sich entziehende Lebensweise verständlich“2, so Saner. Warum musste sich Jaspers dem Leben entziehen? Er war ein chronisch kranker Mann.

    Wer die gesundheitlichen Einschränkungen nicht hautnah miterlebte, bemerkte sie kaum. Daher wunderten sich einige über die absonderliche Gewohnheit von Jaspers, sich zu schonen. Er sei überheblich, weltfremd, ein Spießbürger, dachte man. Doch dieser Eindruck täuschte. Jaspers war schon als Kind und Jugendlicher kränklich. Im Jahr 1901, als er 18 Jahre alt war, erhielt er endlich die richtige Diagnose: Bronchiektasie, eine chronische und unheilbare Atemwegserkrankung.3 Diese Erkenntnis veränderte sein Leben. Von da an musste er bewusst mit seiner Krankheit umgehen. Mit dem chronischen Schnupfen, den erweiterten und verschleimten Bronchien, den vielen Erkältungen mit Fieber. „Die Mehrzahl meiner Tage ist beschattet von körperlichem Mißbefinden“4, schrieb Jaspers in seiner Autobiografie.

    Bedächtig, vorausschauend, planend und abwägend, war nun sein Alltag zu gestalten. Kleinste Unregelmäßigkeiten zeigten negative Auswirkungen. Was war zu vermeiden? Jede Form von Anstrengung, wie Treppen steigen, einen Koffer tragen oder langes Stehen. Beim Spazierengehen musste er alle paar hundert Meter eine Pause einlegen, bei Wind vermied er es zu sprechen, denn jede Erkältung bedeutete für ihn zwei Wochen Bettruhe.5 „Ganz gewöhnliche Leistungen einigermaßen gesunder Menschen werden für mich zur Überanstrengung"6, schreibt Jaspers – dazu zählten das Umsortieren einer Handvoll Bücher oder das Öffnen eines klemmenden Fensters. Selbst langes Sitzen am Schreibtisch war zu anstrengend. Sich zwischendurch ausrasten am Longchair, war Teil seiner täglichen Routine.

    Erst die enge Zusammenarbeit ließ Hans Saner erkennen, wie ausgeklügelt und vorbildlich Jaspers mit den körperlich starken Einschränkungen umgegangen ist.

     

    Der letzte Weg

    Den größten Eindruck machte Jaspers auf Hans Saner in den letzten Monaten vor seinem Tod. Es war eine Phase des Leidens und Kämpfens. Im August 1968 leitete der erste Schlaganfall die letzte Lebensphase ein. Dabei hatte Saner folgende Eindrücke:

    Jaspers war in den letzten Monaten nicht nur körperlich schwer krank, auch seine geistigen Fähigkeiten, wie sein exzellentes Gedächtnis, waren beeinträchtigt. Die vielen Medikamente trieben ihn zeitweise in Wahnvorstellungen. Doch anstatt das Schicksal einfach zu erdulden, nahm er seinen Verfallsprozess bewusst, ja sogar neugierig wahr. Zu diesem Zweck beschwor er Hans Saner, ihn schonungslos damit zu konfrontieren und zu warnen, wenn er wieder einmal den Bezug zur Wirklichkeit verlieren sollte.7 Es war der letzte Kampf des großen Philosophen mit Krankheit und Tod. Er wusste, er konnte ihn nicht mehr gewinnen. Wenn Platons berühmter Satz: Philosophieren hieße eigentlich sterben zu lernen8, jemals gelebt wurde, dann von Jaspers.

    Nach dem dritten Schlaganfall, im Oktober 1968, war der Schreibtisch des betagten Philosophen leergeräumt. Dies markierte einen schmerzlichen Moment. Jaspers hatte jegliche Form der produktiven Arbeit beendet. Seine Hoffnung, hin und wieder noch Kraft für die Philosophie aufzubringen, war dahin.

    Saner begleitete Jaspers bei diesem Prozess des Abschieds. Sein Eindruck war: Äußerlich schien der Abschied vom produktiven Leben fast schmerzlos vor sich zu gehen. In Wahrheit wurde er reflektiert bis in die Möglichkeit des Selbstmordes hinein. Erst als Jaspers, gemeinsam mit seiner Frau, diese Eventualität verworfen hatte, wählte er ganz bewußt das neue Dasein als Schwerkranker. Er wollte nun erleben, wie es mit ihm zuende  ging, und er tat es, bis in die scheinbar erniedrigendsten Phasen des Krankseins, mit Souveränität und Würde, die das letzte Zeugnis seiner gelebten Philosophie waren.“9

    Die Erfahrung der Wahnvorstellung und die Sprachstörungen jeden Morgen machten Jaspers zu schaffen. Eigenmächtig entschloss er sich daher, die Medikation systematisch zu ändern und die Auswirkungen zu beobachten. Die Strategie war erfolgreich. Lähmungserscheinungen sowie geistige Verwirrung verschwanden, nachdem er einen Teil der starken Medikamente abgesetzt hat. Eine Phase der Verbesserung trat ein.10 Auch in dieser Zeit blieb Jaspers im Rahmen der Möglichkeiten Arzt, Psychiater und Existenzphilosoph.

    Die letzte Woche

    Bei Saners Besuch am 20. Februar 1969 konnte Jaspers kaum mehr sprechen. Er lag im Bett, wie immer, jedoch jetzt fast vollständig gelähmt. Auch die nächsten Tage brachten keine Verbesserung. Saner konnte den Worten, dem Gestammel von Jaspers nicht mehr folgen, worüber dieser sichtlich verstimmt war.

    Zu seinem 86. Geburtstag am 23. Februar schien Jaspers heiter. Ein gutes Gefühl, Gratulanten und Verwandte noch einmal, ein letztes Mal bewusst zu sehen. Abends, ein makabres Bild sei es gewesen, so Saner, Jaspers lag unbeweglich, schwach im Bett, rund um ihn die Blumen – wie aufgebahrt.

    Die kommenden Tage schwanden die Lebensgeister immer mehr. Das Ende war nah. Am 26. Februar 1969, am 90. Geburtstag seiner Frau Gertrud, stellte ein Arzt um 13:42 den Tod von Karl Jaspers fest.11

    Bereit, zu sterben – bereit, zu leben

    Soll ich meinem Leben aktiv ein Ende setzen? Mein Schicksal selbst in die Hand nehmen? Wie viel Schmerz und Leid kann ich ertragen?

    Diese Fragen waren für Jaspers nicht nur vor seinem absehbaren Ableben wichtig. Schon in den Jahren 1939–1942 stellten sie sich unweigerlich.12 Die Antworten auf diese Fragen waren in einem Punkt eindeutig. Bevor der kranke, von den Nazis von der Universität verbannte Professor und seine jüdische Ehefrau deportiert würden, wäre der Selbstmord zu wählen. Das Ehepaar lebte in dieser Zeit in der ständigen Bereitschaft zu sterben, das Zyankali griffbereit.13

    An Flucht war fast nicht zu denken, dazu war Jaspers körperlich nicht in der Lage. Nur eine Migration mit sicherem Ausgang wäre möglich gewesen. Wenn, dann nur mit der Gewissheit, Arbeit und ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Möglichkeit nach Paris zu gehen, wurde verworfen. Das erste Angebot in die Schweiz zu gehen, von den deutschen Behörden zunächst vereitelt.14

    Jaspers zögerte und haderte mit der Ungewissheit, die der Krieg mit sich brachte. Um selber aber Gewissheit zu erlangen, welche Entscheidungen er zusammen mit seiner Frau Gertrud treffen wollte, führte er Tagebuch. Die zwei Hauptfragen dieser Zeit waren: (1) ins Ausland gehen, ja oder nein; (2) Selbstmord, ja – aber unter welchen Umständen? Um einem qualvollen, würdelosen Sterben zuvorzukommen, zum Beispiel. Der staatlichen Gewalt und Willkür ausgeliefert zu sein, ohne Möglichkeit der Gegenwehr, das konnte und wollte Jaspers nicht dulden. Dazu sein Tagebucheintrag vom 14. 08. 1942: „Der Selbstmord ist nicht mehr Selbstmord, wenn er die würdige Vorwegnahme einer wie immer gearteten Hinrichtung ist.15

    Im inneren Kampf und mit stiller Verzweiflung suchten Gertrud und Karl nach Wegen, wie der politisch erdrückenden Situation standzuhalten sei. Dabei konfrontierte Gertrud ihren Ehemann immer wieder mit dem Vorschlag, allein die Welt verlassen zu dürfen. Ihre jüdische Herkunft brachte beide in Gefahr. Darum bat sie um Erlaubnis, aus dem Leben scheiden zu dürfen. Sie sah darin die Chance, dass ihr Mann von den Nazis verschont bleiben würde und somit sein philosophisches Werk vollenden könnte. Doch Karl wollte davon nichts hören, wenn schon aus dem Leben treten, dann gemeinsam. Die Grundlage aller Entscheidungen war für ihn, dass sie zusammenbleiben.16

    Leben und Werk sind in der Existenzphilosophie eng aneinandergeknüpft. Die Beziehung von Jaspers mit seiner Frau ist ein sehr eindrückliches Beispiel dafür. Ihre Verbindung weist über die Liebe hinaus, sie betrifft den innersten Kern ihrer menschlichen Existenz. Absolute Solidarität und Treue waren die Ecksteine dieser tiefen Verbundenheit. Darum schrieb er: „Gertrud möchte den Opfertod sterben für mich und für die Vollendung meiner Philosophie als Werk in der Welt. Aber dann wäre sie nicht mehr meine, nicht mehr unsere Philosophie, sondern nur noch ausgedachtes Zeug."17 Ohne Gertrud sei er nichts. Seine Schriften seien nicht nur die seinen, sein Werk und sein Denken waren für ihn mit seiner Frau verbunden. „Es lebt und gedeiht nur aus der Substanz unserer Treue“18, schreibt er ins Tagebuch.

    Das Ehepaar Jaspers ist nicht geflohen, eine Deportation und ein Suizid sind ihnen erspart geblieben. Aber die Ereignisse saßen tief. In Deutschland wurde der jüdischen Bevölkerung angetan, was nie hätte geschehen dürfen. Vor diesem Hintergrund und dem Wunsch nach Ruhe und gesicherten Verhältnissen ergriffen sie 1948, viele Jahre nach dem ersten Angebot, nun doch die Möglichkeit, in die Schweiz zu gehen. Jaspers konnte in Basel in Ruhe leben und an der Universität bis 1961 lehren. Er hat den Entschluss Deutschland zu verlassen, auch später nie bereut.19

    Nach Ende des Zweiten Weltkrieges begann auch sein vehementes Engagement als politischer Schriftsteller. Das wichtigste Buch dieser Phase erschien im Jahr 1958. Es wird eines seiner erfolgreichsten und umstrittensten Bücher sein: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Jaspers erntete in dieser Zeit viel Anerkennung, wie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, aber auch viel Kritik.

    Die existenzielle Bedrohung der Menschheit durch die Atombombe erfordert für ihn grundlegende politische und ethische Konsequenzen. Er appelliert deshalb an die Politik und an alle Menschen, ihr Handeln in den Dienst einer friedlichen Zukunft zu stellen. Dies erfordere eine Abkehr von der herrschenden Machtpolitik.  Für ihn kann dies nur in demokratischen Systemen verwirklicht werden. Gedanken und Appelle, die wieder an Aktualität gewonnen haben.


      1. Saner, 1974, S. 318
      2. Saner, 1974, S. 319
      3. Vgl. Jaspers, 1977, S. 12f.
      4. Jaspers, 1967, S. 118
      5. Vgl. Jaspers, 1967, S. 125
      6. Jaspers, 1967, S. 126
      7. Vgl. Saner, 1974, S. 319-322
      8. Vgl. Platon, 1991, S. 217
      9. Saner, 1974, S. 321
      10. Vgl. Saner, 1974, S. 324
      11. Vgl. Saner, 1974, S. 325f.
      12. Vgl. dazu den Abschnitt: Jaspers, 1967, S. 143-163
      13. Vgl. Karl Jaspers-Stiftung, o. J.
      14. Vgl. Jaspers, 1967, S. 163
      15. Jaspers, 1967, S. 161
      16. Vgl. Jaspers, 1967, S. 155, 158
      17. Jaspers, 1967, S. 160f., vgl. dazu auch S. 145f.,159
      18. Jaspers, 1967, S. 159
      19. Er nahm sogar das Basler Bürgerrecht an. Vgl. Karl Jaspers-Stiftung, o. J.

    References

    Literatur<br>Jaspers, K. (1967). Schicksal und Wille : Autobiographische Schriften (H. Saner Hg.). München: Piper.<br>Jaspers, K. (1977). Philosophische Autobiographie (Erw. Neuausg.). München: Piper.<br>Platon. (1991). Symposion : Phaidon (Griechisch und Deutsch, Sämtliche Werke IV, Trans. Nach der Übersetzung Friedrich Schliermachers, erg. von Franz Susemihl, hrsg. von Karlheinz Hülser). Frankfurt am Main: Insel Verlag.<br>Saner, H. (1974). Sterben können. In: K. Piper & H. Saner (Hrsg.), Erinnerungen an Karl Jaspers (S. 317-326). München, Zürich: Piper.<br>Internetquelle<br>Karl Jaspers-Stiftung (o. J.). Online unter: https://jaspers-stiftung.ch/de/karl-jaspers/leben/leben#der-umzug-von-heidelberg-nach-basel (08.12.2024)<br>