Der europäische Kanon der modernen Philosophiegeschichte erweist sich als in vielerlei Hinsicht sexistisch, zivilisatorisch (civilisationnel) und rassistisch geprägt .
Diese Krise begann außerhalb der Philosophie selbst, als ab der Mitte des 20. Jhds. Disziplinen wie die antikoloniale Psychiatrie, die Globalgeschichte, Literaturwissenschaft, Weltwirtschaftssystemtheorie, Gender Studies und die postkoloniale und antirassistische Theorie das triumphalistische Selbstverständnis des philosophischen Kanons infrage stellten: berühmte Denker wie Descartes, Kant, Locke, Rousseau, Hegel und Marx. In den letzten zwanzig Jahren erschüttert dieser Wandel nun auch das Innere der Philosophie.
Diese neue Perspektive führt zu klar sichtbaren institutionellen Auswirkungen. Initiativen zur "Diversifizierung" und "Pluralisierung" der Philosophiegeschichte nehmen stark zu. Diese möchte ich unter drei Fragen thematisieren:
- Aufklärung und Unsichtbarmachung: was ist der historische Kontext der Ausschlie-ßung von Philosophinnen und nicht-europäischen Philosophien aus dem Kanon?
- Kanon und Wiederholung: was heisst "Kanon"?
- "Archäologische" und "dialektische" Ansätze: das Beispiel von "La crise du Muntu" (1977) von Fabien Eboussi-Boulaga
Aufklärung und Unsichtbarmachung
Was macht „Rasse“ und „Geschlecht“ zu ähnlichen Problemen in der Philosophie-geschichte? Die Ausschließung von Frauen und nicht-westlichen Philosophien aus der dominierenden Philosophiehistoriographie fand im gleichen Zeitraum statt, zwischen der Mitte des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Philosophiegeschichte als akademische Disziplin institutionalisiert und wissenschaftlich fundiert wurde. Kants Antwort auf die Frage der Berliner Akademie, "Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz's und Wolf's Zeiten in Deutschlang gemacht hat?" (1791), illustriert dies gut mit ihrer Rekonstruktion a priori einer "philosophischen" Philosophiegeschichte.
Laut der Schweizer Philosophiehistorikerin Catherine König-Pralong ist es im Namen des Imperativs, die Spezifität der Geschichte der Philosophie als akademische Disziplin zu unterscheiden, im Namen dieser „philosophischen Geschichte der Philosophie“, dass die großen deutschen Philosophiehistoriker bis ins 20. Jahrhundert die nicht-westlichen Traditionen ausschlossen, indem sie die griechische Herkunft der Philosophie betonten. So wurde der Westen zum „Gebiet der reflektierten, kritischen und analytischen Rationalität“FOOTNOTE-1 und projizierte die nicht-kritischen Traditionen aus Asien und Afrika in den Schatten.
Seit den 1990er Jahren untersuchen feministische Philosophiehistorikerinnen den Ausschluss der Frauen aus der Philosophiegeschichte, Während Gilles Ménage 1690 in seiner Historia mulierum philosophicum(Geschichte der Philosophinnen) noch rund 70 anerkannte, enthält der 1812 erschienene Grundriss der Geschichte der Philosophie von Wilhelm Gottlieb Tennemann nur noch eine. Eileen O'Neill erklärt dies so:
[E]ither the bulk of early modern women’s philosophical writing directly addressed such topics as faith and revelation, and “the woman ques-tion,” or these topics were addressed within a larger philosophical context. But by the nineteenth century, philosophy had “confined theology to its own domain,” [...] German historians, taking Kantianism as the culmination of early modern philosophy and as providing the project for future philosophical inquiry, viewed treatments of “the woman question” as precritical work, of purely anthropological interest. In sum, by the nineteenth century, much of the published material by women, once deemed philosophical, no longer seemed so.FOOTNOTE-2
Kanon und Wiederholung
Rassismus und Sexismus sind konstitutiv für die Philosophiegeschichte sowohl als akademischer "Disziplin" wie auch als "Kanon", was folgende Aufstellung der zwischen 1992 und 2018 im British Journal for the History of Philosophy publizierten Artikel zeigt:FOOTNOTE-3
Michael Beaney bemerkt die Abwesenheit von Philosophinnen en passant:
... there is a widespread prejudice that someone working instead on medieval philosophy or neo-Kantianism, to take just two examples, are not in the same league. We need to do much more to show how deeply mistaken this prejudice is, and we hope that the new and exciting work that is now being published in the BJHP will help do this, and in the process encourage further work on philosophers outside what is increasingly recognized as an absurdly narrow canon. (p. 6)
Im Altgriechischen bedeutet "Kanôn" zunächst eine Schilfrohrstange, später dann « toute barre ou baguette de bois longue et droite ».FOOTNOTE-4 Daraus entwickelte sich die Bedeutung von „Kanon“ sowohl im Sinne eines hölzernen Messgeräts als auch – im übertragenen Sinne – als „Regel“ im Sinne von „Gesetz“. Ursprünglich bestand dieses „Gesetz“ aus den Beschlüssen der Konzile und umfasste dann alle kirchlichen Dekrete und heiligen Schriften der Kirche. Heute bedeutet „Kanon“ allgemein eine « toute liste d’œuvres destinées à la lecture ou à l’étude en raison de leur qualité, de leur valeur ou de leur représentativité ». Dazu kommt die musikalische Bedeutung des Kanons: Während der Kanon zunächst als „Intervall“ zwischen Noten verstanden wurde, beschreibt er später eine Form des mehrstimmigen Gesangs. Im Dictionnaire de l'Académie française von 1762 wird der „Kanon“ so erklärt: « une sorte de fugue qu' on appelle perpétuelle, parce que les parties partant l'une après l'autre, répètent sans cesse le même chant. »FOOTNOTE-5
Ich betrachte die semantischen Verschiebungen des Begriffs „Kanon“ als Hinweis auf dessen schwer fassbaren und vielschichtigen Charakter. Diese Verlagerung von einem konkreten Messinstrument hin zu einem Gesetz, das sich endlos wiederholt, spiegelt treffend das philosophische Problem wider. Denn der Kanon ist zugleich ein Instrument der „Messung“ (das es ermöglicht, „Gute“ von „Schlechten“, „Große“ von „Kleinen“ zu unterscheiden) und eine Norm, die vor allem durch die Wiederholung besteht. In diesem Sinne ist der Kanon mehr als eine Liste von Autoren in einem Lehrplan; er ist, wie Jacques Derrida formulierte, ein wahrer Apparat, der Legitimität erzeugt und „Rechte“ verteilt.FOOTNOTE-6
Man kann diese Positionen anhand von zwei Polen organisieren: einerseits den „institutionellen“ Pol und andererseits die „Kritik der Institution“.
Der Pol der institutionellen Philosophiegeschichte, vertreten hier durch Michael Beaney oder durch die American Philosophical Association (APA), nimmt eine überwiegend psychologisierende Perspektive auf die Gründe der Ausschlüsse ein und verfolgt eine pragmatische Herangehensweise bei den zu ergreifenden Maßnahmen. Mary Ellen Waithe, Herausgeberin einer vierbändigen Anthologie zur Geschichte der Frauen in der Philosophie (A History of Women Philosophers, 1987–1995), ist ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang. Sie sieht die Ausgrenzung von Frauen aus dem philosophischen Kanon vor allem als das Resultat von Vorurteilen („bigotry“) misogynistischer Männer, die die Philosophie-geschichte geformt haben – ihrer „Lügen“ und ihrer methodologischen Faulheit („lazy boy methodology“) angesichts der tatsächlichen Archive, die in Wirklichkeit Hunderte von Manuskripten von Philosophinnen enthalten.FOOTNOTE-7 Waithe verfolgt das Ziel, zu zeigen, dass der Ausschluss von Frauen nicht nur ungerecht ist, sondern auch falsch, „unphilosophisch“ und historisch ungenau.
Der andere Pol, jener einer „kritischen“ Philosophie, bietet eine politische Analyse derAusschlussmechanismen und betrachtet das Phänomen des Ausschlusses als inhärent der philosophischen Institution selbst. Das Problem des Kanons besteht hier nicht nur darin, zu verstehen, warum bestimmte Werke willkürlich oder ungerecht Teil einer besonderen, geheiligten oder kanonisierten Auswahl sind oder nicht, sondern darin, die Logik hinter diesem Kanonisierungsprozess zu erfassen. Die Wiedereingliederung von Philosophinnen und nicht-westlichen Philosophien in die große Erzählung der Philosophie-geschichte erfordert ein Überdenken der grundlegenden Definition der Philosophie und ihrer Normen – wie etwa der nie vollständig erläuterten Unterscheidung zwischen „großen“ und „kleinen“ Philosophen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Arbeit der Wiederentdeckung von Texten, die aus dem dominanten Narrativ ausgeschlossen wurden, nicht einfach das Ergebnis einer schlecht gemachten Wissenschaft. Sie fordert vielmehr eine Analyse der Wertsysteme, um diese zu entschärfen.
FOOTNOTE-1 Catherine König-Pralong, La Colonie Philosophique: Écrire l’histoire de la philosophie aux XVIIIe et XIXe siècles. Paris: Éditions de l’EHESS, 2019 : 205.
FOOTNOTE-2 Eileen O’Neill, « Disappearing Ink : Eary Modern Women Philosophes and Their Fate in History », in Janet A. Jourany (ed.), Philosophy in a Feminist Voice. Critiques and Reconstructions, Princeton UP : 34
FOOTNOTE-3 Michael Beaney, « Editorial », Twenty-Five Years of the Brititsh Journal of the History of Philosophy, BJHP 26 (1), 2018 : 3. [https://doi.org/10.1080/09608788.2018.1423735]
FOOTNOTE-4 William Marx, « Résumé », Le Canon et l’oubli, cours au Collège de France (en ligne) [https://www.college-de-france.fr/fr/agenda/lecture/invisible-libraries/le-canon-et-oubli]
FOOTNOTE-5 Dictionnaire de l’Académie française, The ARTFL project (en ligne). [https://artflsrv04.uchicago.edu/philologic4.7/publicdicos/bibliography?head=canon]
FOOTNOTE-6 Cf. Jacques Derrida, Du droit à la philosophie, Galilée, 1990.
FOOTNOTE-7 Mary Ellen Waithe, « Sex, Lies and Bigotry », in Sigridur Thorgeirsdottir, Ruth Edith Hagengruber (eds.), Methodological Reflections on Women’s Contribution and Influence in the History of Philosophy, Springer, 2020 : 19–28.
FOOTNOTE-8 Cf. Lucie Kim-Chi Mercier, « Warding Off the Ghosts of Race in the Historiography of Philosophy », Critical Philosophy of Race 10 (1), pp. 22–47.
FOOTNOTE-9 Fabien Eboussi-Boulaga, La crise du Muntu. Authenticité africaine et philosophie. Présence Africaine, 1977 : 15–16. "Formulieren wir nun präziser, was wir zu zeigen beabsichtigen: Die philosophische Tätigkeit erscheint zunächst als ein Prozess innerhalb der Identifikation des Muntu mit dem Meister. Dieser Prozess reicht von der Selbstverleugnung, dem Status des Objekts, bis zur Negation der Selbstverleugnung, also zur Bestätigung des „Selbst“ als abstraktem Subjekt, ohne Inhalt. Konkreter gesagt, erscheint die Philosophie in ihrem Status als eines der Objekte der mimetischen Verfolgung des Lebensmodells der Meister, die darin endet, ihren Platz im System der Positionen zu besetzen, dessen Struktur unverändert bleibt. Und deshalb verhüllt die philosophische Tätigkeit mehr, als dass sie die Intentionalität, die sie antreibt, und das, worum es dabei geht, offenbart. Was für den Muntu an erster Stelle steht, ist weder Staunen noch Verwunderung, sondern nur die Betäubung, die durch eine totale Niederlage verursacht wird."
FOOTNOTE-10 Ibid., 59. "Die Kritik dieses Systems ist nur möglich, wenn man sich außerhalb von ihm positioniert, nur weil es trotz seiner selbst ein Außen gibt. Vielleicht besteht die Kritik letzten Endes nur darin, zu zeigen, wie diese Präsenz eines Außen im Inneren des Systems widerhallt, selbst wenn es nur in Form von Verleugnung, Geständnis oder Unvermögen ihm gegenüber geschieht, was darauf hinausläuft, ihm ein unüberwindbares Feld und somit eine Grenze anzuerkennen."
"Archäologische" und "dialektische" Zugangsweisen
Es gibt zwei sehr unterschiedliche Wege, Gegenstrategien zum philosophischen Kanon zu entwickeln: eine „archäologische“ und eine „dialektische“ Strategie.FOOTNOTE-8
Die erste Gegenstrategie schafft eine deutliche Distanz zu den philosophischen Texten selbst, indem sie die Funktionsweise ihrer „Diskurse“ analysiert. Dies geschieht durch eine sorgfältige Untersuchung der Grundbausteine der Philosophiegeschichte und durch die Neudefinition von Begriffen wie „Korpus“, „Autor*in“, „Text“, „Argument“, „Frage“, „Probleme“, „Tradition“ usw. Diese Herangehensweise ist äußerst wirkungsvoll, weil sie es ermöglicht, die dominanten Erzählungen der Philosophie zu entnaturalisieren und die impliziten Ontologien, die ihnen zugrunde liegen, zu hinterfragen. Doch indem diese Methode Distanz schafft, verzichtet sie gewissermaßen darauf, „von innen heraus“ über die Philosophie zu sprechen. Durch die Konzentration auf die Geschichtsschreibung zeigt eine solche Herangehensweise nicht den „ehrenvollen“ (honorifique) und wertenden (axiologique) Charakter der Philosophie auf, der so entscheidend für die Bildung von Kanons ist. Für diese Richtung bedeutet die „Krise“ der Philosophiegeschichte, eine neue historiografische Methodologie zu entwickeln.
Andere Ansätze richten ihr Interesse nicht auf die Struktur des philosophischen Diskurses, sondern auf die philosophische Aussage selbst. Diese Ansätze lehnen das hermeneutische Modell der Philosophiegeschichte als Dialog mit den „großen Männern“ der Vergangenheit ab und intervenieren, indem sie ihre eigene marginalisierte Position betonen und die scheinbare Neutralität des philosophierenden Subjekts zurückweisen. Für diese Richtung, die sich stärker für die kritische Dimension der Philosophie als für deren Möglichkeiten als strenge Wissenschaft interessiert, geht es darum, die philosophische Praxis auf neue Grundlagen zu stellen. Damit soll verhindert werden, dass die vermeintlich universelle Perspektive des philosophierenden Subjekts weiterhin als weiß, männlich und westlich reproduziert wird.
Das Buch La Crise du Muntu. Authenticité africaine et philosophie des kamerunischen Philosophen und Theologen Fabien Eboussi-Boulaga ist hier beispielhaft. Veröffentlicht im Jahr 1977, steht es in einer Reihe von Diskussionen über die Ethnophilosophie, die mit der Veröffentlichung von La Philosophie bantoue des belgischen Franziskaners Placide Tempels im Jahr 1945 anfingen. In Bantusprachen bedeutet „muntu“ „Mensch“ oder „menschliches Wesen“. Während der Untertitel das Thema des Buches, die Beziehung zwischen „afrikanischer Authentizität“ und „Philosophie“, beschreibt, thematisiert der Haupttitel diese Beziehung als eine Krise, die das Verständnis des Menschseins selbst berührt.
Das Buch ist in der dritten Person verfasst: Eboussi-Boulaga nimmt die Perspektive des Muntu ein, des afrikanischen Menschen, der sowohl durch die koloniale Gewalt und Erniedrigung als auch durch die Philosophie aus der Menschheit ausgeschlossen wird. Während sich das Werk durch die spezifische Verortung außerhalb Europas definiert, ist es dennoch eng mit der kanonischen europäischen Philo-sophie verbunden. Er bedient sich deren Konzepte, Referenzen und methodischen Ansätze und hebt dabei die dissonante Erfahrung des „Muntu“ in Bezug auf die Philosophie hervor.
Énonçons ainsi plus précisément ce que nous allons nous efforcer de montrer : l’activité philosophique apparaît d’abord comme une conduite parmi d’autres du procès d’identification du Muntu au maître, qui va de la négation de soi, de la situation d’objet, à la négation de la négation de soi, c’est-à-dire à l’affirmation de « soi » comme sujet abstrait, sans contenu. Plus concrètement, la philosophie apparaît, en son statut, comme l’un des objets de la poursuite mimétique du mode d’existence des maîtres qui s’achève par l’occupation de leur place dans le système de positions dont la structure reste inchangée. Et c’est pourquoi l’activité philosophique voile plus qu’elle ne révèle l’intentionnalité qui l’anime et ce dont elle est l’enjeu.
Ce qui est premier, pour le Muntu, n’est ni l’étonnement, ni émerveillement, mais seulement stupeur causée par une défaite totale. […]FOOTNOTE-9
Wie schon Frantz Fanon zuvor, übernimmt und übersetzt Fabien Eboussi-Boulaga das hegelsche Motiv der Dialektik von Herr und Knecht im Kontext der Knechtschaft des „Muntu“ gegenüber dem europäischen Kolonialherren. Das Fehlen von Eigennamen in La crise du Muntu ermöglicht es auch, die ehrwürdigen Namen der europäischen Tradition und die weniger bekannten Namen der afrikanischen Philosophie auf eine gewisse Weise gleichzustellen. Seine Kritik an der Philosophie spielt sich auf der Ebene dieser Form ab, denn nur dieses formale Spiel kann aus dem Inneren heraus diesen „Ort ohne Ort“ benennen, der der philosophischen Äußerung eigen ist und sich selbst autorisiert. Für Eboussi-Boulaga bedeutet diese enorme Arbeit der philosophischen Verschiebung weder einen Ausstieg aus der Philosophie noch ihre Aneignung als etwas grundsätzlich Exogenes, sondern präzise die Infragestellung, durch die Äußerung selbst, dieser „Externität“ (extériorité) und „Innerlichkeit“ der philosophischen Rede:
La critique de ce système n’est possible que si l’on se place en dehors de lui, que parce qu’il y a, en dépit de lui, un extérieur à lui. Peut-être la critique ne consiste-t-elle, en définitive, qu’à montrer comment cette présence d’un dehors retentit au-dedans du système, ne serait-ce que sous forme de dénégation, d’aveu, d’impuissance à son endroit, ce qui revient à lui reconnaître un champ irréductible et donc une limite.FOOTNOTE-10
Dieses Buch hebt hervor, dass es keine fertige Lösung für die Sinn- und Legitimationskrise gibt, die die Geschichte der Philosophie heute durchläuft: Man setzt keine Kanons durch bloßen redaktionellen oder institutionellen Willen. Die Transformation oder gar die Abschaffung des Kanons erfordert, etwas zu entschärfen, was, ähnlich wie die Sprache, nicht auf einmal etabliert werden kann. Über den Kanon und seine Kritik nachzudenken bedeutet, den Kanon nicht nur als exklusiven Raum zu begreifen, sondern als einen Ort, zu dem man immer wieder zurückkehrt, sei es aus Gründen der Anerkennung, der Unter-scheidung, der Strategie, aber auch aus didaktischen Gründen. Es ist kein Zufall, dass nach Kant die Systeme selbst zu den Symbolen des philosophischen Kanons geworden sind. Abgeschlossen in sich selbst, ist das „System“ selbstgenügsam, unüberwindbar und legitimiert sich selbst. Wenn man versucht, sich von dieser Logik zu befreien, aus was werden dann die philosophischen Kanons von morgen bestehen? Werden sie an einem solchen didaktischen oder pädagogischen Ziel beteiligt sein, oder können sie einfach auf einer neuen ethischen oder politischen Grundlage formuliert werden?
Reinhart Koselleck hat gezeigt, dass die Bedeutung des Begriffs „Krise“ sich in der modernen Zeit kristallisiert hat, als die Geschichte temporalisierte wurde. Den Begriff „Krise“ im Kontext der Geschichte der Philosophie zu verwenden, erscheint sinnvoll, doch es sollte nicht der Eindruck einer linearen Progression in Richtung größerer Inklusivität und pluraler Demokratisierung entstehen, zumal uns politische und soziale Indikatoren zeigen, dass ein solcher Pluralismus in den Bereichen Geschlechtsidentität, Sexualität, Kultur, Rasse oder Religion nach wie vor weitgehend umstritten ist. In diesem Sinne, auch wenn diese Auseinandersetzung mit dem philosophierenden Subjekt heute einen scheinbar unumkehr-baren Wendepunkt darstellt, wird diese „globale“ philosophische Transformation nicht linear verlaufen und durch die Neuerfindung von Konzepten und Erzählungen geschehen, die in der Lage sind, diese Vielheit zu begreifen, ohne sie in den institutionellen Logiken zu fangen.