Zukunft: für immer noch nicht angekommen

Die Zeit muss man nicht anhalten, um sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Denn auch wenn die Zeit vergeht, die Zukunft tut es nicht. Unauslöschlich hört sie nicht auf, uns unabwendbar bevorzustehen.

·

    Unantastbar, unbeirrbar und ohne je den Verlust jener Welt zu spüren, in der wir leben: das Jetzt. Jeden Augenblick gibt sie her, sobald er ankommt, als löse sie eine Schuld ein - an die Gegenwart, die Vergangenheit, ohne sich zu erinnern. Und umgekehrt wissen wir von der Zukunft etwas nur, sobald es nicht mehr ihr gehört. Nie scheint sie sich zu verkürzen, sie liegt immer gleich weit offen vor uns wie der Horizont. Zukunft ist unerschöpflich jene Zeit, die ständig noch nicht angekommen ist. Die Zeit vor ihrer Ankunft.

    Zukunft kann man nicht aufhalten. Wir werden immer annehmen, was sie bringt, was immer das ist. Denn was immer sie jetzt ist, genau das wird einmal sein.

    Was ist Zukunft überhaupt? Und – wie Richard David Precht nachlegen würde - wenn ja, wie viele? Ist sie eine Geschichte, die noch nicht erzählt werden kann, oder eine, die noch nicht einmal geschrieben wurde? Oder ist die Gegenwart nur immer ein Knotenpunkt, von dem aus sich die Varianten der Zukunft auffächern, die berühmten „möglichen Welten“ der Logik, in denen allen jene Aussagen, die als notwendig wahr gelten wollen, wahr sein müssten?

    Und wie lange dauert Zukunft? Kommt da noch ewig etwas, ohne Ende? Nicht nur, dass wir uns das nicht vorstellen können. Auch hier müsste die Frage nach der Existenz um jene der Eindeutigkeit ergänzt werden: Was ist Unendlichkeit und wenn ja, wie viele? Als wäre der Unvorstellbarkeit nicht genug, kennt die Mathematik nämlich auch noch mehrere Formen von Unendlichkeit: abzählbar unendlich und überabzählbar unendlich. Dabei geht uns alles schon zu lang, das nach kaum mehr abzählbar vielen Stunden endlich fertig ist. Wie Woody Allen einst sagte: die Unendlichkeit kann verdammt lange dauern, besonders gegen den Schluss. Ja, auch unsere Ungeduld hat mit Zukunft zu tun, vor allem mit dem Wert, den sie für uns hat.

    Kommt Zeit, kommt Zukunft

    Man könnte sagen: Zukunft ist das, was auf uns zukommt. Auf uns und unsere Nachkommen. Einmal abgesehen von der Frage, wer dieses „uns“ dannzumal sein wird und jener, – die wir vielleicht noch weniger beantwortet haben wollen –, wer denn diese Nachkommen sein werden, schwingt hier auch eine der Mütter aller Fragen mit: Was ist Zeit?

    Isaac Newton beschrieb das Phänomen der Zeit 1687 folgendermassen: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äusseren Gegenstand.“

    Dieser Begriff einer absoluten Zeit entspricht wohl auch heute noch unserem Alltagsverständnis, verlor in der Wissenschaft aber 1905 seine Gültigkeit, als Albert Einstein die spezielle Relativitätstheorie formulierte. In ihr wurde auch Zeit zu einem relativen Phänomen, es gab keine absolute, vom Standpunkt des Beobachters und seiner Bewegung unabhängige Welt-Zeit mehr. Beobachter, die sich relativ zueinander bewegen, beurteilen zeitliche Abläufe unterschiedlich. Da es kein absolut ruhendes Koordinatensystem gibt, ist die Frage, welcher Beobachter die Situation korrekt beurteilt, nicht sinnvoll. Man kann daher jedem Beobachter nur noch seine sogenannte Eigenzeit zuordnen. Zudem beeinflusst die Anwesenheit von Massen den Zeitablauf, sodass diese an verschiedenen Orten im Gravitationsfeld unterschiedlich schnell verstreicht. Damit war auch Newtons Annahme, die Zeit verfliesse ohne Bezug auf äussere Gegenstände, widerlegt. Im dreidimensionalen Raum ist die Wahl der drei Koordinatenachsen willkürlich, sodass Begriffe wie links und rechts, oben und unten, vorne und hinten relativ sind. Die Relativitätstheorie zeigt, dass auch die Zeitachse nicht absolut ist. Raum und Zeit lassen sich nicht mehr trennen, sie hängen voneinander ab und spannen zusammen die vierdimensionale Raum-Zeit auf.

    Zeit muss in der Relativitätstheorie nicht unbegrenzt sein – sie hat vielleicht ein Ende, die Zeit könnte auch für die Zeit einmal ablaufen. Und fast sicher hatte sie einen Anfang: Der Urknall ist nämlich womöglich nicht nur der Beginn der Existenz von Materie, sondern auch von Raum und Zeit – und damit auch der Beginn der Zukunft. Nicht nur in dem Sinn, dass die Zeit dann zu ticken beginnt, als habe jemand eine Stoppuhr gedrückt, sondern es gab zuvor keine Zeit – es gab davor kein Davor und kein Danach, keine Vergangenheit, kein Jetzt und keine Zukunft.

    Die moderne Physik ist für den Laien kaum noch von Science Fiction zu unterscheiden: So ist etwa prinzipiell nicht ausgeschlossen, dass beispielsweise über die Krümmung der Raum-Zeit Reisen in die Vergangenheit möglich sind, unter anderem durch sogenannte Wurmlöcher, die Bereiche der Raum-Zeit mit unterschiedlicher Zeit verbinden könnten. Im Film Back to the Future aus den 1980-er Jahren führt eine Reise in die Vergangenheit dazu, dass sich die Mutter des Protagonisten Marty McFly in ihn statt in seinen Vater verliebt. Auf dem Foto, das er aus der Zukunft mitgenommen hat, beginnen die Umrisse seiner Geschwister zu verschwinden. Ein anderes Beispiel: Könnten wir in der Vergangenheit einen tödlichen Autounfall mit uns selbst verursachen, hätten wir in der Zukunft diese Reise in die Vergangenheit nie machen können. Solche Paradoxien liessen sich im Rahmen der sogenannten everettschen Vielwelten-Theorie vermeiden. Danach wäre die Vergangenheit, in die man reist, in einer Parallelwelt angesiedelt. Der ursprüngliche Ablauf der Dinge und der durch die Zeitreise modifizierte würden sich beide parallel und unabhängig voneinander abspielen.

      Die Zeit läuft davon – aber in welche Richtung?

    Der Zeitbegriff hängt eng mit dem Kausalitätsbegriff zusammen. Wir erachten es als selbstverständlich, dass die Ursache vor ihrer Wirkung auftritt. Anders gesagt: Die Zukunft hängt von der Gegenwart kausal ab. Die Vergangenheit dagegen kann nicht durch Ereignisse in Gegenwart oder Zukunft verändert werden. Fällt eine Keramiktasse zu Boden, so zerbricht sie in Scherben. Dass sich umgekehrt diese Scherben von selbst wieder zu einer intakten Tasse zusammenfügen, ist dagegen nie beobachtet worden. Dabei stünde das nicht prinzipiell im Widerspruch zu den Naturgesetzen. Viele physikalische Gesetze würden nämlich auch im Fall einer Zeitumkehr funktionieren, man sagt, sie seien symmetrisch in Bezug auf die Richtung der Zeit. Gravitation, Relativitätstheorie oder Quantenphysik: alle Gesetze, die unser Universum am besten beschreiben, funktionieren, wenn Zeit vorwärts, aber auch rückwärts läuft.

    Dass wir das nicht beobachten, hängt mit der Entropie zusammen, eine Grösse zur Beschreibung der Ungeordnetheit eines Systems. Die Entropie hängt von der Anzahl Zustände ab, die die Teilchen dieses Systems einnehmen können. Je mehr Zustände möglich sind, desto höher ist die Entropie. Da bei einem makroskopischen System, etwa einer Flüssigkeit oder einem Gas, nur äussere Werte wie Temperatur oder Druck gemessen werden können, die einzelnen Zustände der Moleküle aber unbekannt sind, entspricht die Entropie dem Grad unseres Unwissens über dieses System: je höher die Entropie, desto mehr Zustände, die wir nicht kennen, und desto höher die Unordnung. Wenn wir uns etwa einen Drink mixen, erhöhen wir dessen Entropie. Denn im Ausgangszustand, in dem wir getrennte Bereiche mit Eiswürfeln, Vodka und Tomatensaft im Glas beobachten, ist unser Wissen über das System höher als im gemixten Endzustand, in dem wir die einzelnen Komponenten nicht mehr unterscheiden können. Die Zahl der möglichen Zustände dagegen ist im Endzustand höher, da sich die Alkohol-, Wasser- und sonstigen Moleküle nun an jedem beliebigen Ort im Glas aufhalten können. Das Mixen erhöht die Unordnung der Moleküle. Je geordneter ein System dagegen ist, desto mehr können wir darüber wissen, desto geringer ist dessen Entropie: Wenn wir unseren Schreibtisch aufräumen, verringern wir sie, denn die Gegenstände auf dem Tisch können nun weniger unterschiedliche Positionen einnehmen als vorher im ungeordneten Zustand.

    Das hat Konsequenzen für die Richtung von Kausalität und Zeit: Als Folge des sogenannten zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik nimmt die Entropie im Universum stets zu und damit seine Ordnung ab. Unser Drink kann also von selbst nie mehr in den Zustand übergehen, in dem er vor dem Mixen war. Damit gibt die Entropie eine eindeutige Richtung der Zeit vor: die Zukunft. Der gemixte Drink folgt auf den ungemixten, nicht umgekehrt. Die beiden Richtungen der Zeit verlieren damit ihre Gleichwertigkeit, und man spricht vom thermodynamischen Zeitpfeil. Er wird als Basis für das Fliessen der Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft angesehen, so, wie wir es in unserer Alltagswelt erfahren. Die Entstehung der Organismen und daher des Menschen war nur dank dieser Eigenschaft, dieser Richtung der Entropie möglich. Physikalisch gesehen ist die Zukunft für uns daher jene Richtung, in der Entropie wächst.

      Zukunftsphilosophie aus der Vergangenheit

    Während uns die Physiker also überfordern, mit unserer Intuition allein lassen und eher verwirren, vermögen die Philosophen daran einmal mehr nichts zu ändern. Im Gegenteil könnte man sagen: Die Philosophen scheinen sich besonders genau an den zweiten Satz der Thermodynamik zu halten. Hier einige Beispiele, wie sie die Unordnung im System erhöhen und eigentlich ein kleineres Chaos anrichten:

    Für Heraklit fliesst bekanntlich alles (panta rhei), und natürlich ganz besonders die Zeit. Ein anderer grosser Grieche und Vorsokratiker, Parmenides, lehrte gerade das Gegenteil: Veränderung ist nur Schein, die Wirklichkeit, das Seiende, verändert sich in Wahrheit nicht. Aus dieser Sicht ist auch die Zeit nur schwer erklärbar. Für Aristoteles wiederum ist der Zeitbegriff untrennbar an Veränderungen gebunden, Zeit ist das Mass jeder Bewegung und kann nur durch diese gemessen werden. Augustinus fasst die Not der Philosophen in seinen berühmten und poetischen Widerspruch: „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiss ich es nicht.“ Immanuel Kant umgeht das Problem, indem er die Unmöglichkeit der Erkenntnis der Zeit „an sich“ zu einer condition humaine macht. Sie kann nicht Gegenstand unserer Erkenntnis sein, sondern Raum und Zeit sind als „reine Anschauungsform“ die subjektiv-menschlichen Bedingungen unserer Erkenntnis.

    Was kommt da auf uns zu?

    Wenn wir uns fragen, wie die Zukunft aussieht, dann ist das auch die Frage, wie das Universum in Zukunft aussieht.

    Beginnen wir bei uns in der Nähe: Wie sieht die Zukunft für unser Sonnensystem aus? Nicht besonders gut, könnte man sagen. Unsere Sonne hat seit 4,5 Milliarden Jahren, als unser Sonnensystem entstand, die ideale Distanz zur Erde, die unter anderem auch dazu führte, dass sich Wesen entwickeln, die sich diese Frage stellen. Die Leuchtkraft der Sonne wird sich in der nächsten Jahrmilliarde um zehn Prozent verstärken und sich in 6,5 Milliarden Jahren sogar mehr als verdoppeln. Dann wird sich die Sonne, die ihren Wasserstoff aufgebraucht haben wird, aufblähen. Die Klimaerwärmung durch Treibgase wird uns im Vergleich dazu vorkommen wie die perfekte Klimaanlage – falls sich dann jemand noch daran erinnert.

    Die Sonne wird sich im Alter von rund 11 Milliarden Jahre etwa bis zur Erdbahn ausdehnen und damit Merkur und Venus verschlingen. Das ist das Todesurteil für alles Leben auf der Erde: Unser Planet wird gleichsam sterilisiert, bis sich sogar die Atmosphäre auflöst und teilweise ins All entweicht. Bis dann müssen wir von hier weg sein – wer immer wir dann sind. Der final countdown wird also irgendwann kommen, falls wir es so weit bringen.

    Ewig werden wir aber auch durch Planetenwechsel nicht fliehen können vor der letzten Zukunft des Universums: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik hat wie gesagt zur Folge, dass die Entropie zunimmt. Im Zustand maximaler Entropie werden im Universum schliesslich keine geordneten Strukturen mehr existieren. Es wird damit auch keine Lebensform mehr möglich sein.

    Davor bleiben uns ja aber immerhin noch einige Milliarden Jahre.

    Evolution: so weit wie möglich

    Wie gesagt, wollen wir vielleicht gar nicht wissen, wie jene Kreaturen aussehen werden, die irgendwann, bevor hier alles mitsamt unserer Archäologie eingeschmolzen wird, das Raumschiff Erde verlassen. Nach unzählbaren Allianzen, die die Gene bis dann untereinander eingegangen sein werden, um gemeinsam Gefässe zu bauen - von den Mutationen während Milliarden von Jahren ganz zu schweigen. Aus ferner Vergangenheit sind sie gekommen, aus Organismen wie Sauriern oder Menschen und allen, die noch kommen, dank denen sie durch Millionen von Generationen gereist sein werden, bis zum Tag der Abreise von der Erde. Organische Hüllen, die dann fähig sein sollten, mechanische Hüllen zu bauen, Raumschiffe, um diese kleinen Befehlshaber in ihrem Innern als blinde Passagiere mitzunehmen und diese Fracht, die sie als so wertvoll erachten müssen, an einen anderen, sichereren Ort zu retten. Wie viele von unseren jetzigen Genen dann noch an Bord sein werden?

    Wir werden bis dann weiter fleissig Dinge erfunden haben, Hilfsmittel, Werkzeuge mit denen wir unsere Ziele verfolgen, unsere Umwelt gestalten. Immer mehr davon werden wir immer weniger als nicht zu uns, unserem Körper oder dessen Wirkungskreis gehörend empfinden. Der Unterschied zwischen Natur und Kunst, Chemie und Technik dürfte selbst immer künstlicher werden. Unser Phänotyp, also das Erscheinungsbild, das unsere Gene gebaut haben, wird immer mehr als all das definiert sein, was er bewirkt. Was uns das Periodensystem der Elemente eigentlich schon immer zuflüsterte, könnte immer offensichtlicher werden: die Trennung zwischen der Natur und dem, was vom Menschen geschaffen wird, ist Industrie-Romantik. Denn alles gehört zur Welt, zur Natur, und es gibt kein Gleichgewicht ohne den Menschen. Nicht, weil er so wichtig wäre oder besonders – im Gegenteil: Weil er ist wie alles Andere, weil es ihn wie alles andere gibt und das Universum ohne ihn genauso wenig denkbar wäre wie ohne den übrigen Rest, der es ausmacht. Dem Universum ist es auch egal, welche Elemente im Periodensystem durch ihn hinzukommen. Die Möglichkeit neuer Elemente war in ihm ebenso schon enthalten wie die des Menschen selbst.

    Man könnte vielleicht sagen: Nicht nur die Entropie wird in Richtung Zukunft zunehmen, sondern womöglich auch Radius und Umfang unseres Phänotyps – der Mensch wird immer weitere Kreise ziehen, falls er sich nicht selbst aus seinem Orbit wirft. Und mit etwas Science-Fiction-Radikalität: vielleicht ist einmal alles im Universum Ausdruck unseres Handelns, unserer Präsenz. Unsere schiere physische Anwesenheit hat zwar wie gesagt das Universum schon immer beeinflusst, denn das Ganze wäre anders, wenn eines seiner Teile fehlte, egal wie klein es ist. Doch von einer Marginalie des Alls könnten unsere Technik, unser Wissen, unser Dasein zu einem immer weiter anwachsenden Aggregator werden, der immer mehr Dinge ausserhalb von uns angeht, beeinflusst, anfasst. Bis es so gut wie kein „Ausserhalb von uns“ mehr gibt. Die Erde ist vielleicht erst der Anfang – nicht nur, weil wir in ein paar Milliarden Jahren hier die Koffer packen müssen.

    Und vielleicht kommen wir ja sowieso wieder zurück zur Erde, nämlich aus der Zukunft. Aber überlassen wir das der Science Fiction.

      Die Zeit fliesst und wir mit ihr

    Wir sind immer im Fluss, unsere Person ist so gesehen eigentlich eine Illusion. Auch wenn es Richter nicht gerne hören mögen: Wir sind nie das, was wir waren. Dazu kann man, wenn man will, auch Heraklit als Zeugen anrufen: Man kann nie zweimal in den gleichen Fluss steigen. Alles ist im Fluss. Und wir können nie mehr dieselben sein, die wir zuvor waren.

    Unsere Identität fliesst sozusagen durch die Zeit, hangelt sich von einem Herzschlag zum nächsten, an dem auch unser Gefühl hängt, immer noch derselbe zu sein wie beim letzten Schlag. Oder beim letzten Gedanken. Auch die Erinnerung hilft uns zu glauben, dass wir es sind, die uns hier als definiertes Subjekt durch die Zeit bewegen. Dabei leben immer jüngere Teile von uns mit solchen aus vergangenen Zeiten zusammen: Alle sieben Jahre sind wir rein rechnerisch ganz neue Menschen: Zwischen zehn und 50 Millionen Körperzellen pro Sekunde ersetzen wir durch neue. Für nahezu jedes Gewebe existieren Stammzellen, die ständig für Nachschub sorgen. Im Durchschnitt sind die Zellen eines 50-Jährigen 40 Jahre jünger, also zehn Jahre alt. Wir sind sozusagen auf einer konstanten Teilverjüngungskur. Oder umgekehrt, aus der Zukunft betrachtet: Ein Teil von uns wird auch noch in Zukunft sein wie jetzt. Wir sind unsere eigene Zeitreise in die Vergangenheit, unser eigenes Wurmloch, eine Brücke durch die Zeit.

    Precht’s Frage „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ erhält so eine zeitliche Komponente, die sie zu einem konstanten Zweifel werden lässt.

      Der Wert der Zukunft ist der Preis unseres Wartens

    Was soll uns all das, was da noch kommen mag, bedeuten? Wenn wir uns fragen, was uns die Zukunft wert ist, dann fragen wir eigentlich immer auch, was der Wert der Zeit ist. Und auch wenn wir die Zeit nicht festnageln können – weder anschaulich, begrifflich noch durch physikalische Messung: Den Wert der Zeit können wir fühlen, als Wert des Überlassens, des Entbehrens, der Trennungsschmerzen, der Endlichkeit, der wir unterworfen sind.

    Zeit ist ja bekanntlich Geld. Wir werden entschädigt, wenn wir unsere Zeit zur Verfügung stellen, um zu arbeiten - obwohl uns sicher auch etwas Besseres einfallen würde. Auch im Kreditwesen ist es so: Wir verlangen für das Überlassen von Geld etwas. Denn wir können das Geld für die Laufzeit des Kredits nicht nutzen. Noch schlimmer: Vielleicht sehen wir das Geld auch nie wieder.

    Der Zins ist also der Preis für das Überlassen von Kapital. Er ist ein Mass unserer Ungeduld, die Intensität, mit der wir etwas lieber jetzt als später haben. Und er ist damit der Preis unseres Wartens. Er entschädigt uns die Vorliebe für das Jetzt.

    Je nachdem, wie gut die Aussichten sind, mit dem Geld Besseres anzufangen – durch Konsum oder alternative Investitionen –, desto grösser der Widerwille, es auszuleihen. In guten Wirtschaftszeiten ist der Zins daher höher, denn die Zukunft scheint mehr Chancen zu bieten, Investitionen mit höherer Rendite scheinen auf uns zu warten, damit sie realisiert werden. Je höher übrigens die Inflation, desto weniger ist eine Geldeinheit in Zukunft wert. Denn Teuerung heisst nichts Anderes als dass sich das Geld entwertet, weil die Preise der Güter steigen: Mit derselben Menge Geld kann man nicht mehr dasselbe kaufen wie vorher. Verlangen wir pro Jahr 3 Prozent Zins für ein Jahr ohne Inflation, wollen wir bei einer Teuerung von 2 Prozent insgesamt für das Jahr 5 Prozent Zins. Die Preise nehmen – die Ausnahme der letzten Jahre bestätigt die Regel - in Richtung Zukunft ähnlich unaufhaltsam zu wie die Entropie.

    Hier müssen wir kurz auf ein unvermeidliches Prinzip unseres Daseins und Handelns eingehen: Kaufe ich ein Buch, habe ich gleichzeitig entschieden, nichts Anderes zu kaufen mit demselben Geld. Und beginne ich zu lesen, kann ich nichts Anderes tun, insbesondere nichts Anderes lesen – und auch nicht etwa Fahrrad fahren. Zu den Kosten jeder Handlung gehört der entgangene Nutzen einer deswegen unterlassenen Alternative. Den deswegen entgangenen Nutzen nennt die Ökonomie Opportunitätskosten. Auf Kredite übertragen: Je besser die Alternativen, in die wir das Geld stecken könnten anstatt es jemandem zu leihen, desto höher der Zins, der diese Opportunitätskosten abgelten muss.

    Der Zins ist also menschlicher als sein Ruf. Er ist ein Barometer für unser Gefühl, dass die Zukunft ungewiss ist und wir eher auf die Gegenwart setzen als auf die Zukunft – wir haben eine Gegenwartspräferenz. Wir leben lieber jetzt als später, alles, was wir wollen, hätten wir lieber früher als später, und am liebsten sofort. Und so, wie jede Gefahr schrumpft, je weiter sie in der Zukunft liegt, genau so schrumpft jeder Nutzen, je länger wir darauf warten müssen. Anders gesagt: Die Vorliebe für die Gegenwart verringert den Wert der Zukunft: So wie ein Vermögen, das verzinst wird, in Zukunft einen grösseren Betrag aufweist, muss ein Betrag aus der Zukunft heute einem kleineren Betrag entsprechen. Ob Dividendenzahlungen aus Aktien, Erbschaften, Löhne, Unternehmensgewinne oder Auszahlungen aus der Pensionskasse: genauso wie ausgeliehenes Geld bis zur Rückzahlung verzinst wird, müssen künftige Beträge auf heute «abgezinst» werden, um ihren Bar- oder Gegenwartswert mit anderen Investitionen vergleichen zu können.

    Für einige Religionen ist der Zins als Ausdruck von Gier dennoch des Teufels. Er ist ein Gewinn, der ohne Arbeit und damit ungerechtfertigt anfällt. Schlaue Köpfe entgegneten, der Zins sei die Kompensation eines asketischen Verzichts, eines Aufschubs des Glücks in die Zukunft. Sie wussten, dass gerade Religionen dafür ein feines Gehör haben müssten: Was ist nämlich das Paradies anderes als der zukünftige Lohn für Verzicht auf Erden?

    Ein anderes Wort dafür, dass wir um der Zukunft willen auf etwas verzichten ist Sparen. Für unseren Konsum in der Zukunft, und sei es der Glorie im Jenseits, oder für die Generationen nach uns. Und daher zum Schluss die ketzerische Frage von Woody Allen: Was haben künftige Generationen je für uns getan? Keine Angst, es geht nicht schon wieder um die Umkehrung der Kausalität und um Zeitreisen. Es geht nur darum, unseren Genen einen kleinen Schrecken einzujagen, die ja am meisten besorgt sind um die Zukunft, ihre Zukunft. Und um einen kleinen Selbstversuch. Denn wenn sie uns in ihrem Sinn gebaut haben, dann rebelliert auch alles in uns gegen diese Ketzerei gegenüber den Nachkommen. Diese könnte ja damit enden, dass wir uns höher bewerten als sie. Nein, nicht die Nachkommen, sie selbst, die Gene. Jene Architekten, die uns als ihre Schutzhülle um sich herum gebaut haben – ohne es zu wollen und zu wissen. Sie haben nicht mit diesen Sinnfragen rechnen können, die wir uns zu stellen fähig sind, sozusagen als ungewolltes Nebenprodukt unserer von ihnen sehr wohl gewollten kognitiven Fitness. Denn diese wäre nur dafür „gedacht“ gewesen, uns beim Überleben zu helfen und dafür, mit anderen Hüllen voller Gene neue, zunächst ganz kleine Hüllen zu zeugen, die wir mit Nahrung füllen und die deswegen wachsen. Bis uns die Gene darin auf Wiedersehen winken und sich in die nächste Generation einschiffen. Ohne je ganz anzukommen, wie die Zukunft.