Wem gehört eigentlich die Welt?

Die anhaltenden Flüchtlingsströme aus den afrikanischen Ländern, den Ländern des Balkans sowie aus den Ländern des Nahen Ostens stellen die europäischen Staaten vor extreme Herausforderungen.

    Die anhaltenden Flüchtlingsströme aus den afrikanischen Ländern, den Ländern des Balkans sowie aus den Ländern des Nahen Ostens stellen die europäischen Staaten vor extreme Herausforderungen. Von Europa wird nicht weniger erwartet, als in kürzester Zeit eine Infrastruktur aufzubauen, die sowohl die Grundversorgung der Ankommenden, deren vollständige Erfassung und Registrierung sowie deren schnellstmögliche Integration sicherstellt. Diese ordnungspolitischen Herkulesaufgaben bedürfen dringend technisch-effizienter, administrativer Lösungen und sie betreffen zweifelsohne die vitalen Interessen dieser Gesellschaften. 

    Die zentrale moralphilosophische Frage bezüglich der nicht enden wollenden Einwanderungswelle lautet hingegen: „Haben die Menschen, die zu uns kommen und Teil der europäischen Gesellschaften werden wollen, einen gerechtfertigten Anspruch, ein Recht, auf Zuwanderung?“ Mit der Frage nach dem Recht auf Zuwanderung ist dabei nicht das positive Recht, das Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland oder das der Schweiz gemeint. Gemeint ist ein moralisches Recht, ein Recht, das dem Individuum allein aufgrund seines Menschseins und damit unabhängig vom positiven Recht eines Einzelstaates zukommt. Denn das geltende Recht eines Staates kann gerecht, aber eben auch ungerecht sein. So habe ich das moralische Recht, nicht belogen zu werden, selbst dann, wenn es mir faktisch vorenthalten wird, d. h., selbst dann, wenn ich von Zeit zu Zeit tatsächlich von anderen belogen werde. Dieses Recht kann ich ungeachtet des Verstoßes dem Lügner als moralischem Subjekt gegenüber einklagen. Gegenstand der Moralphilosophie und der Politischen Philosophie als normativer Theoriedisziplinen ist nicht das Faktische, sondern das Kontrafaktisch-Normative – das was sein soll, aber leider nicht immer der Fall ist. Die Frage lautet also, ob die einwanderungswilligen Menschen uns gegenüber – unabhängig von den geltenden Rechtsbestimmungen der europäischen Einzelstaaten – ein überpositives Recht auf Zuwanderung besitzen, dem wir als moralische Akteure verpflichtet sind nachzukommen.

    Schaut man nun in die zweieinhalbtausendjährige Geschichte des politisch-philosophischen Denkens des Abendlandes, so mag es den ein oder anderen überraschen, dass eine Vielzahl von Denkern bereit waren, diese Frage positiv zu beantworten. So war das Recht auf freie Wahl des Lebensortes von alters her Teil des ius gentium, des stark vom stoischen Naturrecht und Kosmopolitismus beeinflussten Völkerrechts. Dieses war seit der Expansion Roms in großen Teilen Europas über Jahrhunderte hinweg für die rechtliche Ordnung der Beziehungen der Menschen über die Staatsgrenzen hinweg wie auch der Beziehungen der Staaten untereinander zuständig.

    Ganz im Sinne dieser antiken völkerrechtlichen Tradition spricht Francisco de Vitoria (1483-1546), Mitbegründer der spanischen Spätscholastik und einer der interessantesten Köpfe der Rechtsschule von Salamanca, von dem natürlichen Rechtstitel der societas et communitas naturalis – dem natürlichen Recht eines Menschen auf freie Zuwanderung und freien Aufenthalt unter Fremden. Und noch John Locke (1632-1704) macht in der Zweiten Abhandlung über die Regierung – das Werk, das die Mutter aller Menschenrechtserklärungen, die Virginia Declaration of Rights (1776), wie auch die um einige Wochen jüngere Präambel der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung maßgeblich beeinflusst hat– die Legitimität staatlicher Herrschaft vom Recht des Individuums auf freie Zu- und Abwanderungsrecht abhängig. Diese für uns geradezu progressiv anmutende Haltung bezüglich des individuellen Rechts auf freie Zu- und Abwanderung ist nicht der Tatsache geschuldet, dass es sich bei Francisco de Vitoria und John Locke um linke naive Sozialromantiker und Philanthropen gehandelt hätte. Im Gegenteil: Francisco de Vitoria diente das natürliche Recht des Individuums auf freie Zuwanderung und freien Aufenthalt in der Fremde der (zumindest hypothetischen) Rechtfertigung der spanischen Conquista; und John Locke verdiente einen Teil seines gerade nicht unerheblichen Vermögens durch Aktienbeteiligung am Sklavenhandel.

    Die Einsicht, die dem Recht auf freie Zuwanderung bei Francisco de Vitoria, John Locke und weiteren in der Völkerrechtstradition stehenden Denkern zugrunde liegt, ist, dass die Erde keinem Menschen alleine gehört, sondern Eigentum des gesamten Menschengeschlechts ist. Ein jeder habe daher prinzipiell auf ein bestimmtes Stück Grund und Boden denselben gerechtfertigten Anspruch wie alle anderen. Die Annahme, dass „Deutschland den Deutschen“ und „die Schweiz den Schweizern“ gehöre, würden diese Denker somit als einen kruden Irrtum zurückweisen. Aus dem zufälligen Ort der eigenen Geburt mag sich für sie ein Privileg der Bürgerschaft ableiten, nicht aber das Privileg des exklusiven Aufenthaltsrechtes oder des exklusiven Nutzungsrechtes eines ethnisch (und nicht politisch) definierten Volkes über einen Erdteil, der ursprünglich Gemeinbesitz der Menschheit ist.

    Was unter moralischen Gesichtspunkten erschwerend hinzukommt: Es darf nicht sein, dass Menschen aufgrund ihrer Geburt in ihren Lebenschancen und Lebensaussichten massiv benachteiligt sind. Es kann nicht sein, dass ein Großteil der Menschen aufgrund kontingenter Abstammungsverhältnisse, einem signifikant höheren Risiko von Hunger und Armut ausgesetzt ist und für ihn ein ungleich höheres Risiko besteht, das Opfer von Gewalt und Unterdrückung zu werden, während ein kleiner Teil der Menschheit aufgrund von Geburt im Wohlstand lebt und ungleich bessere Lebenschancen hat. Vor mehr als 300 Jahren sind bereits unsere Vorfahren gegen das moralische Unrecht einer solchen Geburtsaristokratie im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den Kampf gezogen. Nun zeigt die Erstürmung der „Bastille“ Europa, dass wir – ob wir es wollen oder nicht – selbst Teil einer Geburtsaristokratie globalen Maßstabes sind.

    Die praktischen Implikationen dieser simplen moralischen Tatsache sind zweifelsohne immens und verlangen von uns allen enorme soziale Anpassungsleistungen. Denn es ist wahr: Das Leben des Geburtsadels war nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime ein anderes. Das Leben im egalitären liberalen Rechtstaat des Bürgertums mag für den Geburtsadels vermutlich weniger lustvoll sein, es ist aber ganz sicher ein gerechteres und es ist definitiv ein besseres Leben für die Vielen, die nicht das Glück gehabt hätten, dem Klerus oder Adel zugehörig zu sein.